11.00 Uhr
Familienführung
Mozart brachte seine Erste mit acht zu Papier. Brahms hörte allzu deutlich den „Riesen-Beethoven hinter sich marschieren“ und war prompt schon 43 bei seiner sinfonischen Premiere. Die von Schostakowitsch wurde von der Examensarbeit zum Welterfolg, Rachmaninows fiel durch und kostete ihn Seelenfrieden sowie zahllose Therapiestunden.
Eine solche Lebenskrise steckt hinter dem sinfonischen Erstling von Sergej Prokofjew zum Glück nicht, obwohl dessen knappe, tänzerisch-ironische „Symphonie classique“ 1918 ohne größeres Echo uraufgeführt wurde. Immerhin bescherte sie ihm aber die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen.
Dem jungen Kurt Weill hat seine sehr kurze, einsätzige Erste wahrscheinlich auch nicht allzu viele schlaflosen Nächte bereitet: Der 21-jährige Student in Busonis Meisterklasse für Komposition widmete sich im aufregenden Berlin der 1920er bald anderem, das Jugendwerk mit revolutionärem Pathos verschwand bis 1958 unuraufgeführt in der Versenkung.
Dass seine Erste 1888 in sechs Frühlingswochen „wie ein Bergstrom" aus ihm "hinausfuhr“, hielt Gustav Mahler brieflich fest. Allerdings beschäftigten ihn Teile des Materials davor durchaus schon vier Jahre und auch danach war die Frage, wieviel programmatische Anleitung das zunächst größtenteils verständnislose Publikum haben sollte, für ihn längst nicht abgeschlossen. 1893 dirigierte Mahler eine grundlegend revidierte Fassung, und noch 1909 feilte er an einzelnen Orchesterstimmen.
Prokofjew selbst schrieb mit trockenem Understatement, seine Erste sei „zwar nicht so sehr sinfonisch, aber immerhin eine Sinfonie“. Und scheint diebische Freude daran gehabt zu haben, das mit Haydns und Mozarts Kompositionsstil spielende Werk im Revolutionssommer 1917 auf einem Bauernhof bei St. Petersburg klavierlos und ausnahmsweise gut mit Naturalien versorgt zu schreiben. Nicht minder heiter stimmte ihn, sich im Tagebuch auszumalen, wie die musikalisch-akademischen Würdenträger auf das heute so harmlos wirkende Etikett „klassisch“ reagieren würden angesichts der „schmutzigen Prokofjewschen Dissonanzen“. Im letzten Satz findet sich kein einziger Mollakkord, was „möglicherweise an unerhörte Verantwortungslosigkeit“ grenze. Soviel Leichtigkeit sollte ohnehin leider eine Ausnahme bleiben. Leonard Bernstein jedenfalls erinnert sich in „Humor in Music“, wie er die Sinfonie als 15-Jähriger erstmals im Radio hörte: „Ich lag auf dem Boden und lachte, bis ich weinte.“ Wenn das keine Empfehlung ist.
Kurt Weills Muse und zweifacher Ehefrau, der Sängerin und Schauspielerin Lotte Lenya, ist zu verdanken, dass wir heute neben all den anderen Städte im Namen tragenden Sinfonien von Prager über Pariser bis Londoner auch eine Berliner Sinfonie hören können. Sie fahndete per Tagesspiegel-Inserat nach der verschollenen Partitur. 1957 tauchte sie in einem italienischen Kloster auf, im Jahr darauf wurde Weills Sinfonie Nr. 1 uraufgeführt. Unser Autor Michael Kube charakterisiert das Stück folgendermaßen: „Tragendes Element der Komposition sind die breiten, sich spiralartig bewegenden Akkorde, die als formaler Anker mehrfach wiederkehren. Sie geben Raum für motivisch wie kontrapunktisch
entwickelte Abschnitte, die teilweise lyrisch-entrückt, teilweise marschartig stampfend auf sehr souveräne Weise selbst expressionistische Gestalt annehmen.“
„Es ist Erfahrenes und Erlittenes, was ich darin niedergelegt habe. Wahrheit und Dichtung in Tönen,“ schreibt Gustav Mahler über seine Erste. Er wollte etwas Universelles ausdrücken. Und verstanden werden. Daher hat er es sich nicht leicht gemacht, die von Karl Krauss in Wien beobachtete Polarisierung in „Mahler-Freunde und Mahler-Hasser“ abzumildern. Aber die poetische Erklärung der Sinfonie-Sätze, die wohlmeinende Freunde ihm vorschlugen, half da nicht wesentlich. Also strich er sie nach kürzester Zeit wieder – ebenso wie den Gesamttitel der Ersten, „Der Titan“. Und einen 2. Satz namens „Blumine“, dem so ziemlich jede Solo-Trompete der Welt nachtrauern dürfte.
Streng genommen sollte man also alles vergessen, was sich Mahler programmatisch gedacht hat. Und einfach nur zuhören, wie sich dieses schon typisch nach seinem Schöpfer klingende Werk nach und nach entfaltet, mitsamt erwachenden Naturlauten, instrumentalen Zitaten aus „Wunderhorn“-Liedern, Blaskapellen am Kipppunkt und unheimlichen tönendem Kontrabass-Solo beim Trauermarsch. Aber...
… ein Blick auf den wunderlichen Zug der Waldtiere, die einen Jäger zu Grabe tragen, schadet sicher auch nicht. Über den 3. Satz mit dem damaligen Titel "Gestrandet" schrieb Mahler: „Die äussere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild ‚Des Jägers Leichenbegängniss‘ aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe, Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicierenden Katzen, Unken, Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironischen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht.“