15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
„Alles Mögliche kann hier nun stattfinden, kein Stein des klassischen Konzerts bleibt auf dem anderen,“ fasste die Berliner Zeitung begeistert die Idee unseres Festivals vor zwei Jahren zusammen.
Auch in der zweiten Ausgabe von „Aus den Fugen“ bleiben wir diesem mutigen Ansatz treu: Erneut verwandeln wir Impulse aus dem Weltgeschehen in künstlerische Ideen. Zwei Wochen lang schaffen wir alternative Konzertformate, geben zu Unrecht ungehörten Werken einen Platz auf der Bühne und holen häufig ausgeschlossene Akteure in die Mitte des Geschehens.
Gemeinsam mit starken Künstler*innen, die unsere Neugier auf unbekanntes Terrain teilen, setzen wir die aus den Fugen geratenen Teile neu zusammen und eröffnen damit frische Handlungsspielräume für das klassische Konzert.
Raum entsteht dabei auch für Nachdenklichkeit: Wie können wir wieder festen Boden unter den Füßen finden, wenn um uns herum so vieles ins Wanken gerät? Wie gelingt es, den Glauben an die Menschlichkeit zu bewahren angesichts der zahlreichen Konflikte, Fronten und Kriege? Vielleicht durch die Kraft der Musik als Mittel der Resilienz, durch den Willen, voneinander zu lernen und im Dialog zu bleiben – und nicht zuletzt durch die Gemeinschaft, die ein intensiv gestaltetes Festival stiften kann.
Dazu laden wir Sie herzlich ins Konzerthaus Berlin ein!
Sebastian Nordmann
Intendant
Dorothee Kalbhenn
Programmdirektorin
Komponistin Germaine Tailleferre
Duo Runge & Ammon
Eckart Runge Violoncello und Moderation
Jaques Ammon Klavier
Iñigo Giner Miranda Inszenierung und Performance
PARIS
MAURICE RAVEL (1875 – 1937)
„Blues“ aus der Sonate für Violine und Klavier
Nr. 2 G-Dur (Fassung von Runge&Ammon)
ERIK SATIE (1866 – 1925)
„Gymnopedie“ Nr. 1 für Violoncello und Klavier
(orig. für Klavier solo, Fassung von Runge&Ammon)
GERMAINE TAILLEFERRE (1892 – 1983)
„Berceuse“ für Violoncello und Klavier
(orig. für Violine und Klavier, Fassung von Runge&Ammon)
GEORGE GERSHWIN (1898 – 1937)
„An American in Paris“ für Violoncello und Klavier
(orig. für Orchester, Fassung von Jascha Heifetz und Runge&Ammon)
JACOB GADE (1879 – 1963)
„Jalousie. Tango tsigane“ für Violoncello und Klavier (Fassung von Runge&Ammon)
CLAUDE DEBUSSY (1862 – 1918)
Sonate für Violoncello und Klavier d-Moll
Prologue
Sérénade
Finale
PAUSE
BERLIN
FRITZ KREISLER (1875 – 1962)
Andantino
TOM TYKWER (*1965)
JOHNNY KLIMEK (*1962)
Babylon Berlin – Suite
(Arrangement Runge&Ammon)
Allein
Ein Tag wie Gold
ERNEST BLOCH (1880 – 1959)
„From Jewish Life“ für Violoncello und Klavier
Prayer
Supplication
ERICH WOLFGANG KORNGOLD (1897 – 1957)
„Versuchung“ aus Drei Gesänge für Violoncello und
Klavier op. 18 Nr. 3
(orig. für Gesang und Klavier, Fassung von Runge&Ammon)
PAUL HINDEMITH (1895 – 1963)
Capriccio für Cello und Klavier op. 8
KURT WEILL (1900 – 1950)
Paraphrase über „Die Moritat von Mackie Messer“
aus der „Dreigroschenoper“ und „Youkali. Tango
Habanera“ aus der Oper „Maria Galante“
(Arrangement von Wolf Kerschek und Runge&Ammon)
Die „Goldenen Zwanziger“ oder „Années folles“ stehen für eine ambivalente Zeit der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte, aber auch der Krisen und politischen Instabilität. Flucht in Vergnügungen, in Sinnlichkeit, Ekstase und Verführung gingen einher mit einer florierenden Musikkultur.
Ausgangspunkt des inszenierten Konzertabends mit dem Duo Runge&Ammon und Iñigo Giner Miranda sind die damals pulsierenden Metropolen Paris und Berlin. Hier strömten die Menschen in Operette, Varieté, Revue und in die Tanzsäle. Wilde Jazz- und Tanzrhythmen heizten die Nachtszene an und bildeten den Soundtrack eines neuen, beschleunigten Lebensgefühls.
All diese Entwicklungen inspirierten nicht zuletzt auch Komponisten der Kunstmusik, wie Maurice Ravel, Erik Satie, Kurt Weill oder Paul Hindemith. Sie adaptierten in unterschiedlich radikaler Weise die Tanz- und Jazzmusik, um musikalisch neue Wege zu beschreiten.
Gershwin, Jazz und die „Groupe des Six“
Das Orchesterwerk „Ein Amerikaner in Paris“ ist ein abstraktes musikalisches Portrait eines „amerikanischen Reisenden […], der durch Paris schlendert, den Straßenlärm hört und die französische Atmosphäre in sich aufnimmt“,
so der Komponist George Gershwin. 1928 hatte er Paris besucht und für seine Komposition original Pariser Taxihupen nach New York bringen lassen. Während Ragtime, Charleston oder Blues bei Gershwin Lokalkolorit waren, stellte die Jazzmusik für seine damaligen Pariser Kollegen Importware und reizvolles Material für kompositorische Experimente dar. So hatte beispielweise Maurice Ravel wenige Jahre vor Gershwins Paris-Besuch einen Blues in seine Violinsonate eingebaut, und auch Erik Satie hatte seine Tonsprache im engen Austausch mit der neuen Unterhaltungsmusik entwickelt. Dieser Weg wurde auch durch die „Groupe des Six“ fortgeführt, eine junge Generation von Komponisten wie Francis Poulenc, Darius Milhaud oder der Komponistin Germaine Tailleferre. Die Beschäftigung mit Jazz, Tanz-, Varieté- und Zirkusmusik bot ihnen die Möglichkeit, sich von einer reaktionären romantischen Tonsprache zu lösen, eine Abgrenzung die auch Debussy bereits 1915 mit seiner Cellosonate verfolgt haben mag – allerdings mit gänzlich anderen Mitteln: Er hatte an die Tradition des französischen Barock angeknüpft und aus Elementen wie der französischen Ouvertüre oder der Passacaglia neue poetisch-musikalische Formen entwickelt, die er zugleich durch Spielanweisungen wie dem Wort „ironique“ wieder aufbrach.
George Gershwin (links) zusammen mit dem Schlagzeuger James Rosenberg (Mitte) und dem Tenor Richard Crooks (rechts) posieren 1929 mit original Pariser Taxihupen, die für eine Aufführung von „Ein Amerikaner in Paris“ verwendet wurden.
Tanztaumel und Fantasie-Jazz in Berlin
Mit „echtem“ Jazz aus Amerika in Berührung zu kommen, war in Paris zu Beginn der 1920er Jahre deutlich einfacher als in Berlin. Während schon Ende der 1910er Jahre berühmte Schwarze Jazz-Musiker in Paris auftraten und die Platten von Original-Dixieland-Jazzbands dort kursierten, blieb die Weimarer Republik durch Krieg, Niederlage und die folgende Inflationskrise bis in die Mitte der Zwanziger von solchen Eindrücken isoliert. Doch um Authentizität ging es den Deutschen bei der Jazzbegeisterung auch gar nicht. Viel wichtiger war das Gefühl von Freiheit
und Fortschrittlichkeit. Der dazugehörige Tanz erfüllte zugleich die Funktion eines symbolischen Abschüttelns von der steifen Gesellschaftsordnung der Wilhelminischen Zeit, wie der Zeitgenosse Hans Siemsen beschreibt:
Die neuen Rhythmen des Berliner Nachtlebens standen zugleich für Zerstreuung und Sinnlichkeit. Komponisten der Kunstmusik wie Kurt Weill und Paul Hindemith nutzen den verführerischen Tango oder Jazztänze wie den Shimmy oder Charleston zur musikalischen Etablierung zwielichtiger Milieus. Der Österreicher Erich Wolfgang Korngold hingegen, der in den Zwanzigern ebenfalls Berlin besucht hatte, blieb lieber bei einer spätromantischen Tonsprache. Das Gedicht „Versuchung“ des Expressionisten Hans Kaltneker mit seinem erotischen Verlangen („Du reine Frau aus Licht und Elfenbein“) goss er in eine opulenten Klaviersatz, der auch noch in der reinen Instrumentalversion mit Cello große Leidenschaft verströmt. Zur Einführung des öffentlichen Rundfunks 1923 in Berlin hörten die ersten 200 Besitzer eines Radioapparats als allererstes Musikstück das Andantino von Fritz Kreisler für Cello und Klavier. Die mediale Neuheit, die anfangs nur wenige Menschen erreichte, wurde schnell zur Erfolgsgeschichte. Bis 1931 besaß in der Hauptstadt jeder zweite Haushalt ein Radio. 1933 fiel dieses junge Massenmedium dann unter die vollständige Kontrolle der Nationalsozialisten, die es für ihre Propaganda ausbauten. Und so verstehen sich Ernest Blochs 1925 in Amerika geschriebene Stücke „Prayer“ und „Supplication“ aus seiner Sammlung „From Jewish Life” im Rahmen dieses Konzerts auch als Verweis auf die wachsende Bedrohungslage für jüdische Menschen in den 1920er Jahren.
Getanzt wurde überall, auch draußen, wie hier beim Tanztee am Wannsee 1925
Das Duo Runge&Ammon gründeten Eckart Runge und Jacques Ammon im Studium aus einer gemeinsamen Leidenschaft für kammermusikalische Grenzgänge um Jazz, Tango, Rock-, Theater- und Filmmusik. Die beiden Musiker gastieren regelmäßig bei Konzertreihen, Festivals und Clubs in Europa, Asien, den USA und Südamerika. Auf Einladung der Witwe Astor Piazzollas, Laura Escalada de Piazzolla, spielten Runge& Ammon 2003 ein Gedenkkonzert in Buenos Aires. Nach Konzerten in New York folgten die Künstler einer spontanen Einladung zu einem Gastauftritt im berühmten Jazzclub „Birdland“. Seit 2021 arbeitet das Duo exklusiv mit dem Label Berlin Classics/EDEL zusammen. Das erste Album, „Revolutionary Icons“, stellt Werke von Beethoven den revolutionären Ikonen der Rock-Popgeschichte wie Jimi Hendrix, Frank Zappa und David Bowie gegenüber. 2022 erschien „Baroque in Blue“, in dem Jazz und Barockmusik in den Dialog treten. Für 2024 ist die Veröffentlichung des Albums „Opium“ geplant, das die künstlerisch dichte Zeit der 1920er Jahre beleuchtet.
Eckart Runge war dreißig Jahre lang Cellist des Artemis Quartetts. Die Alben des Ensembles, unter anderem die Beethoven Gesamteinspielung, wurden mehrfach mit dem Diapason d’Or, dem Grammophone Award und viermal mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet. 2019 entschloss sich Eckart Runge, eigene künstlerische Wege zu gehen. Sein solistisches Debütalbum, die Ersteinspielung des Cellokonzerts op. 85 von Nikolai Kapustin und das 1. Cellokonzert von Alfred Schnittke mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, wurde 2021 mit dem „Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik“ ausgezeichnet. Von 2005 bis 2023 war Runge Professor an der Universität der Künste Berlin und an der Chapelle de la Reine Elisabeth in Brüssel. 2023 folgte er einem Ruf als Professor für Kammermusik an die Robert Schumann Hochschule Düsseldorf. Eckart Runge spielt ein seltenes Cello der Brüder Hieronymus und Antonio Amati aus Cremona von 1595, das ihm als großzügige Leihgabe von Merito String Instrument Trust Wien zur Verfügung gestellt wird.
Jacques Ammon machte bereits 1989 als 1. Preisträger des Internationalen Claudio Arrau Klavierwettbewerbs auf sich aufmerksam. Als Solist und Kammermusikpartner ist er regelmäßiger Gast beim Schleswig-Holstein Musikfestival, den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern oder dem Rheingau Musikfestival. Darüber hinaus konzertierte er im Wiener Konzerthaus, dem Chatelet Paris, dem Concertgebouw Amsterdam, der Wigmore Hall oder dem Palau de la Musica. Neben dem Duo mit Eckart Runge spielt er regelmäßig mit dem Geiger Daniel Hope. Aus dieser Zusammenarbeit sind mehrere Alben beim Label Deutsche Grammophon entstanden. Seit 2015 ist Jacques Ammon Professor für Klavier an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig.
Iñigo Giner Miranda studierte Klavier und Komposition und ist regelmäßig als Komponist, Konzertinszenierer, als Musiker oder Performer in Konzerthäusern und Theatern in ganz Europa zu sehen. Seit 2014 arbeitet er mit Solisten und Ensembles an der Kreation szenischer Abende und außergewöhnlicher Konzertformate. So entstanden bereits Arbeiten u. a. für die Tonhalle Zürich, die Münchener Philharmoniker, das Mahler Chamber Orchestra, das Konzerthaus Dortmund, die Komische Oper Berlin, das L’auditori Barcelona, das Beethovenfest Bonn oder den Gare du Nord Basel. Als Performer und musikalischer Leiter hat er in Theatern wie dem Schauspielhaus Zürich, dem Teatro Real Madrid oder dem Schauspielhaus Köln gearbeitet. Seine künstlerische Arbeit und Expertise für neue Konzertformate gibt er als Dozent an verschiedenen Institutionen wie der Universität der Künste Berlin, der Musik und Kunst Privatuniversität Wien und der Hochschule für Musik und Theater Köln weiter.