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Familienführung
Eine Wunderbrille, die Totes lebendig erscheinen lässt, ein Duell mit einem Gegner ohne Schatten, ein tödlicher medizinischer Rat und drei mysteriöse Frauen: Max Neufelds Stummfilm „Hoffmanns Erzählungen“ von 1923 beruht auf unheimlichen Geschichten des Romantikers E.T.A. Hoffmann, der den Spitznamen „Gespenster-Hoffmann“ trug.
Als Auftragswerk zu „200 Jahre Konzerthaus Berlin“ hat Johannes Kalitzke mit seinen „Beethoven-Variationen für Orchester“ eine Neukomposition zur restaurierten Fassung des Films geschrieben. Zur Uraufführung am Gendarmenmarkt im September 2021 haben wir mit Johannes Kalitzke gesprochen.
Wie sieht Ihr Arbeitsprozess aus, wenn Sie Musik für einen Stummfilm wie „Hoffmanns Erzählungen“ komponieren? Arbeiten Sie sozusagen immer „mit einem Auge“ auf den Film und seinen Ablauf?
Als erstes analysiere ich den Film, um seine Proportionen herauszuarbeiten. Ich muss wissen, welche Handlung im Bild wie lange dauert, um dementsprechend die einzelnen Teile der Musik zu komponieren. Der Übersichtlichkeit wegen verwende ich hier eine Exceltabelle. Ganz wichtig ist mir der Zusammenhang, um kein Patchwork zu schaffen. Die Großform muss im Spannungsbogen funktionieren. Danach sichte ich: Was soll illustriert werden, welche Szenen verdienen eher einen musikalischen Subtext? Danach brauche ich erst einmal Abstand zum Film, um nicht zu sehr an ihm entlangzuarbeiten.
Eine musikalische Illustration kann man sich gut vorstellen – das könnten beispielsweise Geräusche wie eine Türklingel sein, musikalische Imitationen von Schneegestöber oder die passende Musik zu einer Verfolgungsjagd über viele Treppen. Bitte erklären Sie uns, was Sie mit Subtext meinen.
Das Interessante an der Komposition für Film besteht für mich darin, mit Hilfe der Musik Widersprüche zwischen Wahrnehmung und Realität zu beschreiben. Man darf nicht vergessen, dass einer der Kontexte des expressionistischen Films die Psychoanalyse ist. Bei „Hoffmanns Erzählungen“ steckt das Thema Täuschung bereits im Stoff: Hoffmanns gleichnamiges Alter Ego begehrt drei Frauen, die ganz und gar nicht das sind, wofür er sie hält. Wir befinden uns die ganze Zeit im „Kopfraum“ dieses von seinen Begierden und Illusionen Getriebenen. Die Musik entlarvt häufig, was ihm nicht möglich ist zu erkennen.
Von Täuschungen umgeben – Hoffmanns Alter Ego im Stummfilm. Credit: Filmarchiv Austria
Ihre Komposition zum Film trägt den Titel „Beethoven-Variationen für Orchester“. Welche Rolle spielte Beethoven für E.T.A. Hoffmann?
Sie haben sich gekannt und geschätzt. Hoffmann hat viel über Beethoven geschrieben. Er ist in besagtem „Kopfraum“ der Figur Hoffmann präsent. Beethoven lässt sich hier aber kaum im Sinne von Zitaten heraushören, obwohl die Anfangsakkorde aller neun Sinfonien in den ersten zwei Takten stecken. Was an anderen Stellen wie Beethoven klingt, ist aber im Stil von Beethoven nachkomponiert. Im Hoffmanns „Kopfraum“ bewegen sich auch Erinnerungen an eigene Werke wie Undine und an eine seltsame androgyne Stimme. Sie wurde mit Originalmaterialien des letzten lebenden Sänger-Kastraten hergestellt, die immer wieder als unheimlicher Gast das groteske Auftreten diabolischer Erscheinungen begleitet.
Gibt es besondere Hürden für ein Orchester bei der Einstudierung von Musik zu einem Stummfilm oder gestaltet sich dieser Prozess ähnlich wie bei jedem anderen Werk, das uraufgeführt wird?
Engmaschige Konzentration und Detailgenauigkeit wie bei einer „Radioproduktion“ im alten Stil sind dafür auf jeden Fall notwendig. Als Dirigent habe ich die Augen auf dem Zählwerk, denn ich brauche einen Timecode, um die Treffpunkte zwischen Film und Musik zu erwischen. So kann ich das Orchester weniger als sonst mit Blicken lenken, was befreiender und schöner wäre. Wichtig ist, dass man dem Orchester vorher ansagt, dass es stärker auf sich gestellt ist. Das hat sehr gut geklappt.
Im Orchester fallen zahlreiche ungewöhnliche Schlaginstrumente auf, darunter getrockenete Kürbisschalenhälften in Wasserbecken, der Waldteufel oder Brummtopf, Glocken, Schleifpapier und die blaue „Donnerbüchse“ mit der Spirale. Außerdem ist eine sogenannte Strohgeige besetzt. Ist das bei Ihren Kompositionen ein regelmäßig wiederkehrendes Arsenal oder eine für Sie ungewöhnliche Auswahl speziell für „Hoffmanns Erzählungen“?
Das sind Geräuschinstrumente, die nach einer bestimmten Klangvorstellung oft naturalistisch eingesetzt werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn sich im Film ein Bösewicht hinterhältig die Hände reibt, dann wird das mit einem Rhythmus auf Sandpapier imitiert. Außerdem dienen solche Instrumente oft als Überbrückungen zu den elektronisch erzeugten Klängen.
Der „echte“ historische E.T.A. Hoffmann wohnte übrigens in seiner Berliner Zeit am Gendarmenmarkt und hatte gleich um die Ecke vom heutigen Konzerthaus auch seine Stammkneipe. Credit: Filmarchiv Austria