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Familienführung
Mozarts letztes, unvollendetes Werk ist tatsächlich ein Requiem – für Zeitgenossen und Nachwelt eine Steilvorlage, um ausführlich über Vorahnungen und Umstände seines Ablebens zu spekulieren. Tschaikowskys letztes (und vollendetes) Werk ist seine 6. Sinfonie – 9 Tage nach der von ihm dirigierten Uraufführung in St. Petersburg starb er. Warum und wodurch, darüber wurde und wird ebenfalls viel spekuliert: Trank er aus Versehen mit Cholerabakterien verunreinigtes Wasser? Mit Absicht? Oder wurde er von einem ominösen Femegericht seiner ehemaligen juristischen Fakultät aufgefordert, sich wegen seiner Homosexualität umzubringen?
Aufzeichnungen und Briefen dokumentieren, dass der Komponist das Leben schwer nahm, immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hatte, sich einsam fühlte. Und er schrieb, dass seine 6. Sinfonie ein (außermusikalisches) Programm habe, das „für alle ein Rätsel bleiben“ solle und „voll von subjektiven Gefühlsregungen“ sei. Aber ob das Stück deshalb jedoch als Lebensbilanz oder gar eine Art Requiem gelesen werden kann? Auch das bleibt ein Rätsel.
Laut Tschaikowskys Biografin Nina Berberova „... wusste er, dass diese Sinfonie das Beste war, was er je geschrieben hatte. Nicht, weil es sein jüngstes Werk war, nicht, weil er sich selbst seit langen Jahren eine Antwort auf bohrende Fragen geben wollte und dies endlich getan hatte, nicht, weil diese Sinfonie all seinen Schmerz, all sein Wahn barg und er jetzt wie ausgehöhlt war, als hätte man ihm die Seele aus dem Leib gerissen, sondern weil diese Musik mehr denn je er selbst war, Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blut.“
Etwas weniger dramatisch formuliert als in dieser Tschaikowsky-Biographie von 1936: Die „Pathétique“ hat starken autobiografischen Bezug. Ihren Namen verdankt sie übrigens Pjotrs Bruder Modest. Dem Komponisten selbst gefiel der Titel auch besser als seine eigene Idee „Programmsinfonie“.
Von der gern jenseitsweisend genannten Tonart h-Moll, die bereits Bach für seine berühmte Messe und Schubert für die „Unvollendete“ wählten, über das Seufzermotiv, das im Fagott beginnt und im Laufe der Sinfonie durch diverse Instrumente mäandert, bis zum ergreifenden Finale „Adagio lamentoso“ – musikalisch spricht die „Pathétique“ von Vergänglichkeit.
„… die Schönheit, sie ist in Gefahr in dieser Sinfonie, und das unaufhörlich,“ schreibt unser Programmheftautor Jürgen Otten. Das Leben begehrt jedoch auf: schwärmerisch im ersten, Walzer im 5/4-Takt tanzend im zweiten Satz, im dritten irrlichternd und sogar ebenso tapfer wie mechanisch vorwärts marschierend. Doch letztlich erlöscht es in den Tiefen des Orchesters. Was danach kommt? Tschaikowsy blieb während seines Lebens ein Suchender, der um seinen Glauben rang.
Foto: Marco Borggreve