15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
„Alles Mögliche kann hier nun stattfinden, kein Stein des klassischen Konzerts bleibt auf dem anderen,“ fasste die Berliner Zeitung begeistert die Idee unseres Festivals vor zwei Jahren zusammen.
Auch in der zweiten Ausgabe von „Aus den Fugen“ bleiben wir diesem mutigen Ansatz treu: Erneut verwandeln wir Impulse aus dem Weltgeschehen in künstlerische Ideen. Zwei Wochen lang schaffen wir alternative Konzertformate, geben zu Unrecht ungehörten Werken einen Platz auf der Bühne und holen häufig ausgeschlossene Akteure in die Mitte des Geschehens.
Gemeinsam mit starken Künstler*innen, die unsere Neugier auf unbekanntes Terrain teilen, setzen wir die aus den Fugen geratenen Teile neu zusammen und eröffnen damit frische Handlungsspielräume für das klassische Konzert.
Raum entsteht dabei auch für Nachdenklichkeit: Wie können wir wieder festen Boden unter den Füßen finden, wenn um uns herum so vieles ins Wanken gerät? Wie gelingt es, den Glauben an die Menschlichkeit zu bewahren angesichts der zahlreichen Konflikte, Fronten und Kriege? Vielleicht durch die Kraft der Musik als Mittel der Resilienz, durch den Willen, voneinander zu lernen und im Dialog zu bleiben – und nicht zuletzt durch die Gemeinschaft, die ein intensiv gestaltetes Festival stiften kann.
Dazu laden wir Sie herzlich ins Konzerthaus Berlin ein!
Sebastian Nordmann
Intendant
Dorothee Kalbhenn
Programmdirektorin
Castalian String Quartet
Sini Simonen Violine
Daniel Roberts Violine
Natalie Loughran Viola
Steffan Morris Violoncello
Orlando di Lasso (1532 – 1594)
„La nuict froide et sombre“, bearbeitet für Streichquartett
Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)
Streichquartett f-Moll op. 95
Allegro con brio
Allegretto ma non troppo
Allegro assai vivace, ma serioso
Larghetto espressivo – Allegretto agitato
John Dowland (1563 – 1626)
„Come, heavy sleep“, bearbeitet für Streichquartett
Charlotte Bray (*1982)
„Ungrievable Lives“ für Streichquartett
Besuchen Sie auch die Installation „Ungrievable Lives“ der Künstlerin Caroline Burraway vor unserem Musikclub.
Pause
Franz Schubert (1797 – 1828)
Streichquartett G-Dur op. post. 161 D 887
Allegro molto moderato
Andante un poco mosso
Scherzo. Allegro vivace – Allegretto
Allegro assai
„Die Nacht, kalt und dunkel, bedeckt mit undurchdringlichen Schatten die Erde und den Himmel“ – so lauten die Anfangsworte von Orlando die Lassos Chanson, die das heutige Programm eröffnet. Nur zwei Strophen entnahm der aus dem Hennegau (dem heutigen Belgien) stammende Wahlmünchener dafür in den 1570er Jahren aus einem Gedicht des Franzosen Joachim du Bellay: zwei Strophen, die das umfangreiche, den Kreislauf des Lebens und die Vergänglichkeit anmahnende Poem auf die musikalische Gestaltung des Gegensatzes von dunkler, aber auch Schlaf gebender Nacht und hellem, aber harte Arbeit verlangenden Tag reduzieren. In dem durchweg getragenen, etwa zwanzig Jahre später entstandenem Lautenlied „Come, heavy sleep“ des Engländers John Dowland ist der Schlaf der Tröster der „von Gedanken erschöpften Seele“, der „Beschwörer geistverschreckender Wachträume“.
Zu den Bildern, die uns den Schlaf rauben, zählen die von gekenterten Flüchtlingsbooten, von an den Strand gespülten Toten. Der britischen Künstlerin Caroline Burraway hat sich der Anblick eines Rettungswesten-Friedhofs auf Lesbos in die Seele gegraben: „Als ich am Rande des Abgrunds stand, fühlte es sich wie ein physischer Schlag an … Meine Füße sanken ein, als ich mich durch tausende laut schreiende Farben bewegte und jede Form die erstickende Präsenz eines verlassenen Körpers hervorrief. Mir wurde sofort klar, dass ich ein Gefühl davon jenen vermitteln musste, die es weder sehen wollen noch können, die nie in die Situation kommen, es selbst zu spüren.“ Caroline Burraway schuf aus diesem Fortgeworfenen eine Installation aus dreizehn Kinderkleidern, stellvertretend für dreizehn Millionen Flüchtlingskinder weltweit, und konfrontiert den Betrachter mit der Frage: „Was ist der Wert eines westlichen Lebens im Vergleich zum Wert des Lebens des Flüchtlings, der an der Grenze des Westens ankommt?“ Die Komponistin Charlotte Bray – geboren 1982 in High Wycombe und ausgebildet in Birmingham sowie bei Mark-Anthony Turnage in London – ließ sich vor gut zwei Jahren von dieser Installation zur Komposition ihres aus dreizehn Miniatursätzen bestehenden Streichquartetts „Ungrievable Lives“ inspirieren. Uraufgeführt wurde es am 7. April 2022 durch das Castalian Quartet in der Hamburger Elbphilharmonie.
Begleitend zum derzeitigen Festival „Aus den Fugen“ und besonders zum heutigen Konzert präsentieren wir vor unserem Musikclub die Installation „Ungrievable Lives“ von Caroline Burraway.
Als „Quartetto serioso“ hat Beethoven sein f-Moll-Werk op. 95 von 1810 im Autograph selbst bezeichnet. Der „Ernst“ mag konkret an ganz Persönlichem gelegen haben – zeitlich korrespondieren jedenfalls die Verehelichung einer von Beethoven umschwärmten Dame und die Ablehnung seines Heiratsantrages durch eine andere. Gründe, am Dasein zu zweifeln, hatte er damals aber sicher viele. Von der „Versagung des Lebensglückes schlechthin durch das ‘Schicksal‘ …“ sprach der Beethoven-Forscher Harry Goldschmidt und fuhr fort: „Diesmal aber widersetzt er sich der Ergebung, sich aufbäumend gegen das zugeteilte Unglück.“ Atemlos schreit Beethoven seine Empörung gleich am Quartettbeginn heraus; Klage, auch Hoffen mischen sich darein. Dann panzert er sich schnell wieder mit harten Staccati und wütenden Sechzehnteln. Im Allegretto führt die Basslinie stockend abwärts; eine innige Melodie darüber will ans Licht. Die beiden Fugati in der Satzmitte schärfen plötzliche Crescendi und harmonische Reibungen. „Attacca“ fällt das Allegro assai erneut mit Unversöhnlichkeit ein. Die zwischengeschalteten Trios sind flüchtige, leichtfertige Versprechen von Seligkeit. Das Finale beginnt in Schwermut, doch schnell wird die letzte Träne fortgewischt. Was aber soll, ganz am Schluss, der unvermittelte, hysterisch lachende Dur-Moment? Das Erschrecken des Einsamen, das sprichwörtliche Pfeifen im dunklen Wald?
Für das G-Dur-Quartett, sein letztes und umfangreichstes, brauchte Schubert im Juni 1826 elf Tage. Doch es geriet ihm nicht zum Sommerstück. Vielmehr lässt es einen Unbehausten durch Seelenlandschaften irren, lässt es uns an Verse des Dichters Wilhelm Müller denken, die Schubert in seiner „Winterreise“ vertonte. Wie dort sieht das „Herz“ in die flatternden „Wolkenfetzen“ „gemalt sein eig’nes Bild“ und hängt zitternd seine „Hoffnung“ an „das eine Blatt“. Nicht mehr lösbare Konflikte offenbaren die jähen Wechsel von Dur und Moll, von Ausbruch und Einkehr im Kopfsatz. Zeigen sich melodische Linien hier nur als gefährdete Erinnerungen oder zaghaftes Wünschen, so hält im Andante – nachdem unter einem Seufzer der Ersten Geige der Vorhang abrupt aufgezogen ist – das Cello seine Sehnsüchte keine Sekunde zurück; das grollende Unheil ist hinter dem Horizont freilich immer präsent. Das Scherzo wendet seine Rastlosigkeit im Trio-Mittelteil zu zärtlichem Wiegen – fast scheint es so, als hätte der, den es mit seinem „treuen Wanderstab“ gerade noch „weiter denn, nur weiter“ trieb, nun doch noch „so manchen süßen Traum“ gefunden. Und am Ende der wilden Hatz des Finales, nach all den Trugbildern, die beim Näherkommen zerfließen, sind vielleicht wirklich die Wolken verschwunden, glitzert die Sonne. Aber wie heißt es doch in der „Winterreise“? „Ach, dass die Welt so licht! Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht.“
Das britische Ensemble ist rasch zu einem der international gefragtesten Streichquartette aufgestiegen, wurde bei den Royal Philharmonic Society Awards 2019 zum Young Artist of the Year gekürt und ist Quartet in Residence der University of Oxford. Im August 2023 spielte es die Uraufführung von Mark-Anthony Turnages neuem Streichquartett „Awake“ beim Edinburgh International Festival, gefolgt von den belgischen und niederländischen Erstaufführungen im deSingel Antwerpen und im Concertgebouw Amsterdam. Das 2011 gegründete Quartett studierte bei Oliver Wille in Hannover, bevor es von 2016 bis 2020 vom Young Classical Artist Trust (YCAT) gefördert wurde. 2015 erhielt es den Ersten Preis beim Internationalen Kammermusikwettbewerb in Lyon; 2018 wurde es mit dem Merito String Quartet Award, dem Valentin-Erben-Preis und dem Borletti-Buitoni Trust Fellowship ausgezeichnet.
Das Castalian String Quartet ist in den bedeutenden Konzerthäusern der Welt und bei renommierten Festivals (unter anderem Spoleto, Aldeburgh, North Norfolk, Cheltenham, East Neuk, Lockenhaus, Kuhmo, Heidelberger Frühling) zu Gast. 2018 nahm es Haydns Quartette op. 76 für das Label Wigmore Live auf und spielte in der Saison 2019/20 gemeinsam mit den Pianisten Stephen Hough und Cédric Tiberghien, der Bratschistin Isabel Charisius und dem Klarinettisten Michaels Collins einen Brahms- und Schumann-Zyklus. Nach den Quartetten von Britten und Bartók stehen in der aktuellen Saison Schuberts späte Quartette im Fokus. Die Castalians arbeiten mit vielen zeitgenössischen Komponisten zusammen, haben zahlreiche Werke zur Uraufführung gebracht und musizieren auch außerhalb von großen Konzertsälen – zum Beispiel in einem Hochsicherheitsgefängnis und sogar im kolumbianischen Regenwald.
Die 2022 erschienene CD „Between Two Worlds“ (Delphian Records) mit Werken von Lasso, Adès, Beethoven und Dowland wurde vom BBC Music Magazine ausgezeichnet; im Mai 2024 erschien die Einspielung von Eleanor Albergas „Tower“ mit dem BBC Symphony Orchestra bei Resonus Classics.
Seinen Namen führt das Quartett zurück auf die Kastalische Quelle bei Delphi. Einst soll sich die Nymphe Kastalia in ihr Wasser gestürzt haben, als Apollo, der Gott der Künste, ihr liebestrunken nachstellte. Der Sage nach schenkt die Quelle seither jedem, der aus ihr trinkt, künstlerische Inspiration.