Survival musik

By Clemens Matuschek Nov. 18, 2024

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Festivalgruß

„Alles Mögliche kann hier nun stattfinden, kein Stein des klassischen Konzerts bleibt auf dem anderen,“ fasste die Berliner Zeitung begeistert die Idee unseres Festivals vor zwei Jahren zusammen.
 
Auch in der zweiten Ausgabe von „Aus den Fugen“ bleiben wir diesem mutigen Ansatz treu: Erneut verwandeln wir Impulse aus dem Weltgeschehen in künstlerische Ideen. Zwei Wochen lang schaffen wir alternative Konzertformate, geben zu Unrecht ungehörten Werken einen Platz auf der Bühne und holen häufig ausgeschlossene Akteure in die Mitte des Geschehens.
Gemeinsam mit starken Künstler*innen, die unsere Neugier auf unbekanntes Terrain teilen, setzen wir die aus den Fugen geratenen Teile neu zusammen und eröffnen damit frische Handlungsspielräume für das klassische Konzert.
 
Raum entsteht dabei auch für Nachdenklichkeit: Wie können wir wieder festen Boden unter den Füßen finden, wenn um uns herum so vieles ins Wanken gerät? Wie gelingt es, den Glauben an die Menschlichkeit zu bewahren angesichts der zahlreichen Konflikte, Fronten und Kriege? Vielleicht durch die Kraft der Musik als Mittel der Resilienz, durch den Willen, voneinander zu lernen und im Dialog zu bleiben – und nicht zuletzt durch die Gemeinschaft, die ein intensiv gestaltetes Festival stiften kann.
 
Dazu laden wir Sie herzlich ins Konzerthaus Berlin ein!


Sebastian Nordmann
Intendant                 

Dorothee Kalbhenn
Programmdirektorin

Inhalt

Mitglieder des Kyiv Symphony Orchestra

Ruth Schonthal (1924 – 2006)
Sonata Concertante (1973)

I. Tempo rubato
II. Slow, calm, and with great expression
III. Allegro moderato

 

Ursula Mamlok (1923 – 2016)
Fünf Bagatellen für Klarinette, Violine und Violoncello (1988)
I. Grazioso
II. Very calm
III. Playful
IV. Still, as if suspended
V. Sprightly

 

Erwin Schulhoff (1894 – 1942)
Fünf Stücke für Streichquartett (1923)
I. Alla Valse viennese: Allegro
II. Alla Serenata: Allegretto con moto
III. Alla Czeca: Molto allegro
IV. Alla Tango milonga: Andante
V. Alla Tarantella: Prestissimo con fuoco

 

Vasyl Barvinskyi (1888 – 1963)
Sextett für Klavier und Streicher (1915)

 

Gideon Klein (1919 – 1945)
Partita für Streicher (1944)
I. Allegro spiccato
II. Lento
III. Molto vivace

 

Veranstaltung ohne Pause

In Kooperation mit musica reanimata – Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke e.V.

Stärker als der Tod

Zur „Überlebensmusik“ des heutigen Konzerts

„Überlebensmusik“ lautet der Titel dieses Konzerts. Ein großes Wort, in dem viele Bedeutungen mitschwingen: Verzweiflung und Tod, aber auch Trotz und Lebenswille. Tatsächlich vereint das Programm fünf Komponist:innen, die alle Nuancen des Begriffs am eigenen Leib erlebten, in der Konfrontation mit menschenverachtenden, mörderischen Regimes. Zwei entkamen der Judenverfolgung des Dritten Reichs, zwei fielen ihr zum Opfer, einer geriet ins Fadenkreuz der Sowjets. Wie sie unter diesen Umständen schöpferisch tätig sein und Musik schreiben konnten, ist und bleibt ein Rätsel. Doch so tragisch ihre individuellen Biografien auch sind: Ihre Musik überlebte und kündet seither wie ein weithin leuchtendes Fanal von ihrem Schicksal. In den Musiker:innen des Kyiv Symphony Orchestra, die vor dem russischen Angriff ins Exil nach Monheim geflohen sind, findet sie heute ideale Interpret*innen. Die Werke des Abends sind mit Bedacht nach ihrer Besetzungsgröße sortiert; nach und nach kommen immer mehr Musiker:innen hinzu. Ein stärkeres Statement gegen die Versuche, ihre Urheber*innen sukzessive zu dezimieren und (mund)tot zu machen, lässt sich kaum denken.

Die Lebensläufe von Ruth Schonthal (geb. Schönthal) und Ursula Mamlok weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide entstammten jüdischen Familien, wuchsen im Berlin der 1920er und 30er Jahre auf und galten als Wunderkinder, die früh eine universitäre musikalische Ausbildung erhielten. Beide wurden jedoch von den Nationalsozialisten an ihrer Entfaltung gehindert. Angesichts der drohenden Gefahr emigrierte die Familie Schonthal nach Mexiko, die Mamloks nach Ecuador. Doch beide Jungkomponistinnen sahen dort keine Perspektive und wandten sich nach New York: Schonthal auf Vermittlung von Paul Hindemith, der sie zufällig gehört hatte, Mamlok durch ein Stipendium. In der Folge avancierten sie zu geachteten Künstlerinnen und lehrten als Professorinnen an Hochschulen in und um New York. Beide verbanden in ihren Werken die traditionelle europäische Prägung unbekümmert mit unterschiedlichen Strömungen der Nachkriegszeit, wobei Mamlok die etwas kühneren Experimente wagte. Ruth Schonthal reiste 1980 erstmals wieder nach Berlin und übergab später ihren Nachlass der Berliner Akademie der Künste. Ursula Mamlok übersiedelte 2006 hierher zurück und kommentierte: „Es ist eine Rückkehr in meine Geburtsstadt, nicht in die Heimat. Denn meine Heimat ist die Musik.“

Als der Holocaust der blühenden tschechischen Musikkultur der 1920er und 30er Jahre ein jähes Ende setzte und mit ihr eine ganze Generation jüdischer Künstler nahezu auslöschte, verlor die Musikgeschichte einen ihrer experimentierfreudigsten Komponisten: Erwin Schulhoff. Er trat für alle Extremformen der Avantgarde ein, etwa Expressionismus, Serialismus, Dadaismus und Vierteltonmusik, und integrierte als einer der Ersten Jazz in seine Werke. In seinem Œuvre finden sich Kuriositäten wie „Die Bassnachtigall“ für Kontrafagott, das Kommunistische Manifest als Kantate und ein Klavierstück, das nur aus Pausen besteht – über 30 Jahre vor John Cages legendärem Stille-Stück „4:33“. So viel Originalität war zu viel für die Nazis, die Schulhoffs Musik als „entartet“ brandmarkten. Bevor er in die UdSSR fliehen konnte, wurde er verhaftet und in einem Lager in Bayern interniert, wo er 1942 entkräftet starb.

Im Musikleben der Ukraine der 1920er bis 40er Jahre stellte Vasyl Barvinskyi als Komponist, Pianist, Dirigent und Lehrer eine, wenn nicht die zentrale Persönlichkeit dar. Zentrum seines Lebens und Wirkens war Lwiw (Lemberg) im Westen des Landes, wo er an der Musikhochschule unterrichtete und sie zeitweilig auch leitete. Sein lyrischer Stil speist sich sowohl aus westeuropäischer Spätromantik und Impressionismus als auch aus der ukrainischen Volksmusik. Seine Karriere endete abrupt, als er 1948 im aufgeheizten Klima stalinistischer Schauprozesse vom sowjetischen Geheimdienst MGB verhaftet und in ein Straflager deportierte wurde. Nach zehn Jahren im Gulag kehrte Barvinskyi als gebrochener Mann zurück und versuchte, seine Werke zu rekonstruieren, die der MBG systematisch verbrannt hatte. Dazu zählte auch sein Variationenzyklus für Klaviersextett.

Zu den ambivalentesten Einrichtungen der nationalsozialistischen KZs zählten fraglos die Lagerorchester. Pervers einerseits, weil sie zur Unterhaltung ihrer Peiniger aufspielen mussten und weil sie in Propagandafilmen als kulturelles Feigenblatt fungierten, um die grausame Realität zu kaschieren. Andererseits boten sie den Musiker:innen die Möglichkeit, einen Rest ihrer Identität und Würde zu bewahren und die Chance auf ihr Überleben durch bessere Kost und weniger körperliche Arbeit zu erhöhen. Ein prominentes Beispiel ist Anita Lasker-Wallfisch, die „Cellistin von Auschwitz“. Ein besonders reiches Kulturleben gab es im Ghetto Theresienstadt, wo Komponisten wie Hans Krása, Pavel Haas, Viktor Ullmann und Gideon Klein interniert waren, bis sie kurz vor Kriegsende mit dem sogenannten „Künstlertransport“ nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Nichts davon zu hören ist in Gideon Kleins kraftvoller „Partita für Streicher“. Sie entstand 1944 als Trio und blieb nur erhalten, weil er sie einer Freundin übergab, die das Lager überlebte. Der Komponist Vojtěch Saudek instrumentierte sie später für Streichorchester und schrieb dazu: „Kleins Werke sind ein Beispiel par excellence für künstlerische Kraft. Er komponierte, weil es ihm ein Grundbedürfnis war – seine einzige Möglichkeit zu leben.“

Seit dem russischen Überfall im Februar 2022 befindet sich die Ukraine im Ausnahmezustand. Die Ukrainer*innen kämpfen seitdem unermüdlich für ihre Freiheit. Auf dem Kyiver Hauptplatz „Maidan Nezalezhnosti“ (Platz der Unabhängigkeit) verteidigen sie mit Panzersperren ihre Kultur und Souveränität.

Auch das Kyiv Symphony Orchestra, dessen Konzerthaus kriegsbedingt zweckentfremdet ist, spielt unbeirrt und trotz Heimatlosigkeit weiter, um mit den Mitteln der Musik allen Kriegsgepeinigten Gehör zu verschaffen.

Das Kyiv Symphony Orchestra (KSO) wurde 1979 gegründet und hat sich zu einer der führenden Kulturinstitutionen in der Ukraine entwickelt. Das KSO setzt sich für die Bewahrung und Förderung des ukrainischen musikalischen Erbes ein und spielt auch eine wichtige Rolle bei der Repräsentation der ukrainischen Kultur auf den internationalen Bühnen.

Das KSO war in bedeutenden europäischen Konzerthäusern zu Gast, darunter am Wiener Konzerthaus, in der Berliner Philharmonie, in der Elbphilharmonie, am Gewandhaus Leipzig, an der Cité de la Musique in Paris, am Prager Rudolfinum und in der Warschauer Philharmonie. Zudem trat das Orchester am 29. Juni 2022 beim Madrider NATO-Gipfel auf. In den letzten Jahren hat das Orchester an renommierten internationalen Festivals wie Grafenegg (Österreich), dem 39. Internationalen Musikfestival auf den Kanarischen Inseln, dem Kunstfest Weimar, den Wiener Festwochen, dem Schleswig-Holstein Musikfestival und anderen mehr teilgenommen.

Das Repertoire des KSO reicht vom 16. Jahrhundert bis zur jüngeren Generation heutiger Komponist*innen. Für die Qualität ihrer Interpretationen zeitgenössischer Musik wurde das KSO im Jahr 2022 mit dem prestigeträchtigen Musikpreis der Fondation Prince Pierre von Monaco ausgezeichnet, und seit 2023 steht das Kyiv Symphony Orchestra unter der offiziellen Patenschaft der Berliner Philharmoniker. Seit 2024 hat das KSO eine Residenz in Monheim am Rhein und ist Teil der Monheimer Kulturwerke GmbH geworden.

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