Jeder von uns ist ein Dorf

von Irene Dische 6. Oktober 2022

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© Jonas Holthaus

Die in New York und Berlin lebende Schriftstellerin Irene Dische verbindet eine lange enge Freundschaft mit unserem ehemaligen Chefdirigenten Christoph Eschenbach. Für uns hat sie einen wunderbaren Text über einen außergewöhnlichen Menschen geschrieben.

Jeder von uns ist ein Dorf. Darin finden sich ein Verbrecher, sein Anwalt, ein Dummkopf und ein Denker. Man begegnet sicherlich auch einem Kind, einem Mann und seiner Frau, einer Großmutter, einem Liebhaber, alle zusammengedrängt in einer Person. Hin und wieder wetteifern diese Gestalten darum, wer das Sagen hat. Einer kümmert sich um das soziale Verhalten, wohingegen ein anderer sein Privatleben führt. Wer behauptet, nach kurzer Bekanntschaft mit jemandem vertraut zu sein, irrt sich. Stellen Sie sich vor, Sie betrachteten die Figuren auf einem Bild von Breughel und sagten: „Ich kenne diese Leute gut!“

Nur das Äußere lässt sich leicht bestimmen. Christoph Eschenbachs Gestalt ist kompakt, sauber gezogene Linien, ungewöhnlich für jemand in seinen Siebzigern (das Alter verhunzt gewöhnlich alles). Das Gesicht hat die klaren, starken Züge behalten. Die dunklen Augen scheinen über Blenden zu verfügen, die er zuzieht, damit ein Fremder nicht hineingucken kann. Seine Stimme ist leise. Ich kenne ihn lange und gut genug, um mich mit ihm zu kabbeln, doch dass er laut würde, habe ich nie erlebt. Vielleicht verwaltet der Dorfgeistliche sein Äußeres. Ein ruhiger, kontemplativer Priester – ein geistiges Leben, das er nicht an die große Glocke hängt. Er kleidet sich schlicht, in monochromen Tönen. Hand- und Brieftasche sind dieselben, seit ich ihn kenne. Er isst, wenn er Hunger hat. Bei Gelegenheit, das heißt, sollte er einmal zu Hause sein, isst er jeden Tag dasselbe – Gorgonzola und Tomaten, Räucherlachs und Toast. Der Priester trinkt Barolo. Er räumt selber auf. Falls nötig, räumt er auch hinter anderen her.

Das führt uns zu einer wichtigeren Rolle: der einer Mutter/Vaterfigur, eines Ernährers. Christoph hat sich nie genug für Konventionen interessiert, als dass er ihnen gefolgt wäre. Er hat nie geheiratet, keine Familie gegründet, aber er hat viele erwachsene Kinder, Männer und Frauen aus verschiedenen Kontinenten, Musiker, die er ausbildete und beeinflusste und um die er sich kümmerte. Es interessiert ihn immer, was sie machen. Er unterstützt sie und ist stolz, wenn sie erfolgreich sind. Er mischt sich nicht in ihr Privatleben ein, er lässt sie Fehler machen. Was uns zu jemandem führt, den es in seinem Wesen nicht gibt – den Richter. Genauso fehlt ein Polizist. 

Wer also ist noch da drin?

Ich lüge nicht, wenn es zu Technologischem kommt. Da übernimmt der Dorftrottel. Christoph beherrscht seinen Toaster. Doch die elektronischen Geräte entziehen sich ihm. Christophs Pianist beäugt den Computer voll Feindseligkeit – die geschmeidigen Finger stolpern über die Tastatur. Das iPhone trotzt ihm. Zuhause hat er ein altes Festnetztelefon aus dem letzten Jahrhundert. In Nordeuropa dürfte es kein zweites seiner Sorte geben.

Dann gibt es den Vagabunden. Meist hat er die Dinge in der Hand – Christoph reist, ohne zu klagen.  Fast immer in allerletzter Minute am Flugplatz, habe ich ihn herumschlendern sehen, gelassen, als röche er an Rosen. Der Anblick eines schon wieder entvölkerten Gates und das genervte Personal der Fluggesellschaften beunruhigen ihn nicht. Vielleicht fliegt er noch mit, vielleicht auch nicht. Darauf kommt es nicht an. Er reist wegen der Arbeit, und wenn er ausspannt, reist er per Segelboot. Stürme machen ihm nichts aus. Hat ein Flugzeug Verspätung oder landet es im falschen Land, hält er es dem Schicksal nicht vor. Manchmal gesteht er, dass er sich nach einer Nacht guten Schlafs sehne, wenn er dreimal um den Globus gereist ist.

Der Vagabund genießt die Einsamkeit, er ist zufrieden, wenn er für lange Zeit allein ist. Besitz braucht er nicht. Das Wenige, das er mag, hat er für Jahrzehnte um sich, ohne es satt zu bekommen. In Gesellschaft macht ihm das Teilen aber Spaß. Seine Großzügigkeit ist bemerkenswert. Er würde sein letztes Stück Brot teilen. Mit Musikern teilt er gern das Rampenlicht.

Der Gärtner und der Vagabund sind Feinde. Der Gärtner hat einen prachtvollen Dachgarten in Paris, und kennt ihn in- und auswendig. Der Gärtner und der Musiker sind dicke Freunde, der Maestro sitzt, wenn er seine Partituren studiert, gern zwischen blühenden Frühlingsblumen, den Eiffelturm im Hintergrund. Es gibt weitere Gärten – Bilder an den Wänden zuhause, und in Museen. Er ist ein begieriger Museumsbesucher. Er hat auch einen schönen Büchergarten, den er andauernd besucht.

Ich habe die wichtigste Person bis zum Schluss aufgespart. Ein kleiner Junge, der im Krieg zutiefst verletzt wurde. Er ist unabhängig, beschützt sich selbst. Liebt er andere, liebt er sie um jeden Preis. (Wenn Sie schon lang auf der Welt sind, gibt es viele davon. Dass sie nicht um uns sind, heißt nicht, dass man sie weniger liebt.) Der kleine Junge hat seine Mutter, den Vater, die Großmutter verloren. Es gibt niemand, den er kennt. Und der Junge ist schwerkrank. Eine Fremde nimmt ihn mit und bringt ihn ins Bett. Er kann nicht aufstehen. Sie ist Klavierlehrerin. Sie gibt Stunden, und er hört zu. Wochen vergehen, er spricht nicht, doch hört er ihrem Spiel zu. Der Junge von damals wurde ein Pianist und Dirigent. Spielt ein anderer für ihn heute, ist dieser Musiker auch der kleine Junge, der damals vom Typhus genas. Der verwundert und dankbar zuhört, als habe ihn die Musik gerettet. Und diese Haltung beherrscht sein Leben. Eine Art staunende, stille Freude bei allem.

Übersetzung aus dem Englischen: Elisabeth Plessen

Fotos: Jonas Holthaus (Titelporträt); Privatarchiv Christoph Eschenbach (mit Tzimon Barto 1988; mit Herbert von Karajan 1966; mit Mutter Wallydore am Klavier beim Geigenspiel)

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