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Familienführung
C.F. Kip Winger ist ein ungewöhnlicher Künstler – er tourt mit seiner Rockband Winger um die Welt, und er schreibt Orchesterwerke. „Es gibt nicht viele, die das tun“, sagt er mit einem Lächeln. Diese Woche spielt das Konzerthausorchester Berlin seine Grammy-nominierten „Conversations with Nijinsky“ von 2016 als Europapremiere. Wir haben ihn vergangene Woche während seiner Japan-Tournee erwischt und ihm per Zoom ein paar Fragen gestellt. Diese Woche ist er bei uns im Konzerthaus zu Gast.
Meine Eltern waren in einer Jazzband. Als ich 7 Jahre alt war, kauften sie meinen Brüdern und mir Instrumente. Wir gründeten eine Band und spielten in allen High Schools und Clubs in Denver. Als ich 16 war, nahm ich Unterricht in klassischer Gitarre. Damals begann meine Faszination für Barockmusik Außerdem ging ich damals auch mit meiner Freundin zum Ballettunterricht. Sie hatte sonst niemanden gefunden, der mitgehen wollten. Also ging ich. Ich hatte vorher Karate gemacht und der athletische Teil gefiel mir sehr gut. Ich fühlte mich dort wie ein Fisch im Wasser. Und plötzlich hörte ich all diese Musik, mit der ich vorher noch nie in Berührung gekommen war: Tschaikowsky, Debussy, Ravel, Rachmaninown und so weiter.
Damals entstand mein tiefer Wunsch, Orchestermusik zu komponieren, insbesondere Musik für Ballett. Mein erstes größeres veröffentlichtes Stück war 2010 das Ballett „Ghosts“, das von Tony Award-Gewinner Christopher Wheeldon für das San Francisco Ballet choreografiert wurde.
Ich habe mich immer mehr zu Bands hingezogen gefühlt, die progressive rock spielten und klassische Einflüsse verwendeten, zum Beispiel Yes oder Jethro Tull. Mein Denken und mein im Körper verwurzeltes Gefühl für Musik sind sehr organisiert. Als ich Barock und klassische Musik studierte, inspirierte mich das viel mehr als typische Rockmusik und zwang mich, nach großen Komponisten zu suchen, um von ihnen zu lernen.
Ich war 21, als ich von Colorado nach New York zog. Dort habe ich privat Komposition studiert und angefangen, zu komponieren. In der Zwischenzeit bekam ich einen Job bei Alice Cooper und spielte Bass bei ihm, während ich klassische Musik studiert habe. Alice nannte mich den „Aktenkoffer-Rocker“, weil ich eine kleine Ledermappe mit all meinen Orchesterpartituren bei mir trug und im Tourbus die ganze Zeit mit diesen Sachen beschäftigt war. Das war immer meine große Leidenschaft. Das Lustige daran ist, dass ich mir nie vorstellen konnte, dass ein Orchester meine Musik spielen würde. Ich habe es einfach aus Liebe zur Kunst getan.
Während ich den Artikel schrieb, habe ich viel über Nijinskys Leben gelesen: Seine Tagebücher, mehrere Bücher seiner Frau und Peter Oswalds Buch „A Leap Into Madness“. Dazu gibt es übrigens ein kurze Video. Wenn ich mit dem Stück nicht weiterkam, fragte ich Nijinsky im Geiste: „Nun, was würdest du tun - ich würde hier gerne einen großen Sprung machen.“ Da ich Ballett studiert hatte, wusste ich, wie sich das anfühlt. Als ich das Stück fertigstellte, wurde mir klar, dass es aus imaginären Gesprächen mit Nijinsky entstanden war. Ich hatte mir vorgestellt, wie er zu dieser Musik choreografiert – das waren die ungesehenen Tänze von Nijinsky!
Ja, natürlich. Insbesondere beneide ich ihn um die ganze Ära des Ballets Russes mit ihren vielen großen Balletten, großen Komponisten und so vielen bedeutenden Choreographen, vor allem Nijinsky. Er war derjenige, der diese Kunstform meiner Meinung nach mehr als jeder andere vorangebracht hat. Er ist eine Legende ein Mythos und der größte Tänzer seiner Zeit.
Für mich ist er jemand, der vor allem in seinem eigenen Kopf lebte. Er litt unter schweren Geisteskrankheiten, aber er war dabei so kreativ und hatte so viel künstlerische Tiefe. Die Krankheit trug zu seiner Genialität bei. Vieles, vor allem der dritte Satz „Souvenir Noir“, aber auch der zweite Satz, „Waltz Solitaire“, sind aus der Auseinandersetzung mit dieser tiefen Komplexität entstanden.
Eines der erstaunlichsten Dinge an dieser ganzen Geschichte ist, dass ich während meiner Arbeit an den „Conversations“ eine E-Mail von seiner Enkelin Kinga Nijinsky erhielt, die mehr darüber wissen wollte. Ich schickte ihr das Stück, und sie sagte mir, ihr Großvater hätte es geliebt!
Sie lebt in Tucson in Arizona, und als das Sinfonieorchester von Tucson den vierten Satz uraufgeführt hat, kam sie mit ihrer Mutter Tamara. Die Tochter von Nijinsky und seine Enkelin saßen also neben mir im Publikum, und ich konnte ihnen sagen, was für eine große Ehre das für mich war. Tamara Nijinsky ist vor ein paar Jahren verstorben, aber Kinga und ich sind immer noch gute Freunde. Sie kann leider nicht zur Aufführung im Konzerthaus Berlin kommen, aber sie sagte mir, dass sie im Geiste bei uns allen ist!
Foto: Andres Martinez