11.00 Uhr
Familienführung
Joseph Haydn (1732 – 1809)
Streichquartett C-Dur op. 20 Nr. 2 Hob III:32
Moderato
Capriccio. Adagio
Menuet. Allegretto
Fuga e quattro soggeti. Allegro
Maurice Ravel (1875 – 1937)
Streichquartett F-Dur
Allegro moderato. Très doux
Assez vif. Trés rythmé
Très lent
Vif et agité
PAUSE
Béla Bartók (1881 – 1945)
Streichquartett Nr. 5 Sz 102
Allegro
Adagio molto
Scherzo. Alla bulgarese
Andante
Finale. Allegro vivace
Den Musikfreunden ist hinlänglich bekannt, dass Joseph Haydn in der ländlichen Zurückgezogenheit, die sein jahrzehntelanger Dienst bei der Familie Esterházy mit sich brachte, einen Grund sah, warum er „original“ werden musste. Freilich fühlte er sich – so „von der Welt abgesondert“ – keineswegs immer wohl. Nun ist es ja allerdings auch kein Geheimnis, dass große Kunst nicht zwangsläufig durch ein glückliches Leben bedingt wird. Der Biograph Karl Geiringer sah Haydns „Sturm und Drang“-Zeit um 1770 jedenfalls als Kompensation mangelnder menschlicher Erfüllung. Das kammermusikalische Gegenstück zu seinen gemütsbewegten Sinfonien jener Jahre (etwa „Trauersinfonie“, „Abschiedssinfonie“ und „La Passione“) ist ohne Zweifel der Streichquartettzyklus op. 20 von 1772 – extrem, kompromisslos, zugespitzt, auch krisenhaft hat man ihn genannt. Ungewöhnlich sind die sechs Werke in ihrer Affektgeladenheit und Experimentierlust auf alle Fälle.
Im C-Dur-Quartett überrascht gleich der archaisierende Beginn, bei dem eingangs das Cello das Thema vorträgt, das dann nacheinander von den anderen Instrumenten aufgegriffen wird. In der Durchführung reden zunächst die Außenstimmen lautstark miteinander, während Zweite Violine und Bratsche sekundieren. Außerhalb zeitgenössischer Normen präsentiert sich der langsame Satz, den Haydn – der zerrissenen, vielgestaltigen Form ganz angemessen – mit „Capriccio“ (ital.=Laune) bezeichnete: dramatische Unisoni, rezitativische Elemente und mittendrin ein „himmlisches Es-Dur-Arioso“ der Ersten Violine (Georg Feder). Schlägt im dritten Satz das verschattete Trio deutlich einen Bogen zum zweiten, zeigt Haydn in der vierstimmigen Finalfuge kurz und bündig, was unter perfektem Handwerk zu verstehen ist.
Das 1903 komponierte einzige Streichquartett Maurice Ravels folgt noch der klassischen viersätzigen, von Haydn befestigten Form. Doch kündet es – sozusagen als Abschlussarbeit des Kompositionsstudiums bei Gabriel Fauré – auch erklärtermaßen von seinem ganz eigenen „Wunsch nach musikalischer Konstruktion“, was vor allem heißt: von seinem Bemühen, alle Sätze motivisch zu verknüpfen und auseinander abzuleiten. Ganz ohne Vorbild war er dabei nicht, denn die Ähnlichkeiten zu Debussys zehn Jahre früher entstandenem Pendant sind auffällig. Die unentwegte thematische Metamorphose, die durch den Besuch der Pariser Weltausstellung 1889 gewachsene Begeisterung für exotische Skalen, das harmonische Fließen, die feinste Klangpoesie, das Verweben zartester Fäden und Farben lassen sich hier wie dort finden. Obwohl Ravels eigentliche impressionistische Phase erst zwei Jahre später mit „Miroirs“ und der Sonatine für Klavier begann, scheint das Quartett, dem sein sonstiges kammermusikalisches Schaffen mit ziemlichem zeitlichen Abstand folgte, schon in jene Periode zu gehören. Unverwechselbar französisch klingt es für unsere Ohren, vielleicht mag aber dennoch im zweiten Satz auf den gezupften Saiten „der Geist javanischer Gamelan-Musik“ (Arbie Orenstein) tanzen und aus dem Finale die „leichte Fröhlichkeit“ des Sohnes einer baskischen Mutter etwas spanisch grüßen.
Ravels Hoffnung, mit seinem Quartett endlich den begehrten Rom-Preis und einen dreijährigen, finanziell abgesicherten Aufenthalt in der römischen Villa Medici zu erringen, erfüllte sich nicht. Seine Zeitgenossen sahen das Werk kritisch; die nach der Uraufführung Anfang März 1904 im „Mercure de France“ gewagte Behauptung, er sei „einer der Meister von morgen“, hatte Seltenheitswert.
Musik ist Emotion. Musik ist aber auch Form. Béla Bartók, der ungarische Komponist und Volksmusikforscher hat in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine solche erfunden: In der fünfsätzigen „Brückenform“ legen sich um den Mittelsatz die miteinander korrespondierenden Sätze zwei und vier als innere Schicht sowie die Sätze eins und fünf als äußere. In seinem Fünften Quartett, komponiert im August 1934 und im folgenden April in Washington uraufgeführt, ergibt sich daraus die Tempofolge schnell-langsam-schnell-langsam-schnell. Und um das Raffinement auf die Spitze zu treiben, verfolgte Bartók den Symmetrie-Gedanken auch innerhalb der einzelnen Sätze. Im zentralen Scherzo etwa umschließen zwei „bulgarische“ Teile (wobei sich der Zusatz weniger auf das thematische Material als auf den unregelmäßigen 9/8-Takt bezieht) einen Kern, in dem Bratsche und Cello eine folkloristische Melodie über die Geräuschfelder wehen lassen. Adagio und Andante sind eng verwandt: das eine führt in eine schemenhafte Nachtwelt und wird von leisen Trillerfiguren gerahmt; das andere lässt im Tageslicht schärfere Konturen erkennen und beginnt und endet mit Pizzikati. Allegro und Finale geben sich vor allem wild und dissonant.
Musik ist Form. Musik ist aber auch Emotion. Der Musikwissenschaftler György Kroó hat in Bartóks Fünftem Quartett den „Aufstieg und das Absinken“, das „Drama von Geburt und Tod“ gehört und es mit seiner „Sensibilität, die das Entstehen einer Gemütsverfassung mit seismographischer Genauigkeit auszudrücken vermag“, in die Nähe der späten Beethoven-Quartette gerückt.
Diese Saison ist für das Takács Quartet die neunundvierzigste und hält unter anderen die Uraufführung des Werkes „Flow“ von Nokuthula Ngwenyama, CD-Produktionen mit Werken von Schubert, Florence Price und Dvořák, vier Konzerte als Associate Artists in der Londoner Wigmore Hall, zahlreiche weitere Auftritte in den USA, Europa und Neuseeland, das Debüt beim Virginia Arts Festival (mit Olga Kern) sowie eine Partnerschaft mit El Sistema Colorado bereit. Im Sommer erschien eine Aufnahme mit Werken von Samuel Coleridge-Taylor und Dvořák für Hyperion Records.
Zu den jüngsten CD-Produktionen zählen Klavierquintette von Amy Beach und Elgar mit Garrick Ohlsson (2019, Presto Classical Recording of the Year), Quartette von den Geschwistern Mendelssohn (2021, Gramophone Award) und Haydns op. 42, 77 und 103 (2022). Für Hyperion spielte das Quartett des Weiteren Werke von Haydn, Schubert, Janáček, Smetana, Debussy, Britten, César Franck und Schostakowitsch (mit Marc-André Hamelin) sowie Brahms und Dvořák (mit Lawrence Power) ein. Für seine Produktionen beim Label Decca/London erhielt es unter anderem drei Gramophone Awards, einen Grammy Award und drei Japanese Record Academy Awards.
Das Takács Quartett wurde 1975 an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest von den damaligen Studenten Gabor Takács-Nagy, Károly Schranz, Gabor Ormai und András Fejér gegründet und gewann bald darauf den Ersten Preis und den Kritikerpreis beim Streichquartettwettbewerb in Evian/Frankreich (1977), die Goldmedaille bei den Portsmouth- und Bordeaux-Wettbewerben (1978) und die Ersten Preise bei den Streichquartettwettbewerben in Budapest (1978) und Bratislava (1981). Es ist Träger des Verdienstordens des Ritterkreuzes (2001) und des Kommandantenkreuzes (2011) der Republik Ungarn, gewann 2011 den Award for Chamber Music and Song der Royal Philharmonic Society in London, wurde 2012 als erstes Streichquartett in die Gramophone Hall of Fame aufgenommen und 2014 – ebenfalls als erstes Streichquartett – mit der Wigmore Hall Medal ausgezeichnet. Das Quartett hat seinen Sitz in Boulder an der University of Colorado. Seine Mitglieder (zwei von ihnen genießen die großzügige Instrumentenleihe der Drake Instrument Foundation) sind Christoffersen Faculty Fellows, Dozenten an der Music Academy of the West in Santa Barbara und Visiting Fellows an der Guildhall School of Music in London.