15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
Augustin Hadelich (Artist in Residence) Violine
Programm
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Partita E-Dur BWV 1006
Preludio
Loure
Gavotte en Rondeau
Menuett I und II
Bourrée
Gigue
Coleridge-Taylor Perkinson (1932 – 2004
„Blue/s Forms”
David Lang (*1957)
„Before Sorrow” aus den „Mystery Sonatas” (2014)
Eugène Yasÿe (1858 – 1931)
Sonate d-Moll op. 27 („Ballade”)
PAUSE
Johann Sebastian Bach
Partita d-Moll BWV 1004
Allemande
Courante
Sarabande
Gigue
Chaconne
Bei Bach beginnt und endet es: Augustin Hadelich strukturiert sein Programm für diesen Abend zwar ganz bewusst im Rahmen von zwei der großen, viel analysierten Bachschen Solokompositionen für Geige – arbeitet dabei aber dramaturgisch gegen den Strich. Bachs Arbeit an den „Sei Solo a Violino senza Basso accompagnato“, aus denen die beiden Partiten E-Dur und d-Moll stammen, begann wohl bereits um 1714 in Weimar und wurde 1720 in Köthen mit der autographen Reinschrift abgeschlossen. Zwar überwiegen im Zyklus die Moll-Tonarten – für den Schluss aber entscheidet sich der Komponist für eine Partita in E-Dur. In heller, strahlender Tonart arbeitet sich das Werk von sittlichen, ernsteren Tänzen wie der Allemande und der Loure über die lockerere Bourrée schlussendlich hin zu einer ausgelassenen Gigue. Augustin Hadelich stellt diese 3. Partita an den Anfang seines Programms. Von da an verdunkelt sich die Stimmung über den Verlauf des Abends.
Coleridge-Taylor Perkinsons „Blue/s Forms“ liefern eine musikalische und inhaltliche Deutungsmöglichkeit für dieses Konzept: Perkinson schrieb mit dem Werk eine Hommage an die musikalische Sprache des Blues und widmete es dem ersten afroamerikanischen Violinisten, der in der New Yorker Philharmonie spielte: Sanford Allen. Der Komponist versteckt darin Hinweise auf Solowerke unter anderem von Bach und Paganini, strukturiert das Werk aber in Blues-Schemata und -Form. Mit der Emanzipation, die Allens Aufstieg in die New Yorker Philharmonie bedeutete, war für Perkinson untrennbar das historische Leid der versklavten und rassistisch diskriminierten afroamerikanischen Bevölkerung verbunden. Im Blues steckt die gleiche Ambivalenz: sowohl Empowerment als auch Trauer, Stärke genau wie Schmerz, Identität genau wie Verfolgung. Hadelich sieht darüber hinaus eine musikalische Verbindung zu Bach: „Mit der Musik um ihn herum geht Perkinson ähnlich um wie Bach seinerzeit mit Tänzen wie Gavotte und Gigue. Es ist zwar ein großer stilistischer Kontrast, aber die Stücke passen doch irgendwie gut nebeneinander.“
Auch David Langs „Mystery Sonatas“, die Augustin Hadelich 2014 uraufführte, beschreiben die Untrennbarkeit, das Zusammenwirken und den Fluss unterschiedlicher seelischer und geistiger Zustände. So tragen die zentralen Stücke des Zyklus die Titel „Joy“ (Freude), „Sorrow“ (Kummer, Leid) und „Glory“ (Herrlichkeit) – „aber alle drei sind reflexive Zustände des Seins, innerlich ruhig“, schreibt der Komponist. Hadelichs Verbindung zu dem Werk ist eine besondere – schließlich hatte die Carnegie Hall es bei Lang speziell für ihn in Auftrag gegeben. Der Geiger interpretiert an diesem Abend die fünfte Sonate mit dem Titel „After sorrow“, über die Lang schreibt: „Das Leben erhebt sich neu. Mittlere und hohe Töne treten in einen Dialog und versuchen in einer Art von kreisendem Rausch, einem eigenwilligen Taumel zu funkeln“.
Aus der Stille, mit der Langs „After Sorrow“ endet, erhebt sich in Augustin Hadelichs Programm Eugène Ysaÿes meistgespielte Sonate für Violine solo d-Moll op. 27 Nr. 3 („Ballade“) von 1923 – ein Standardwerk für Violinist*innen, das allerdings vor allem für seine technischen und interpretatorischen Herausforderungen bekannt ist. Tatsächlich sind die Sonaten dieser Sammlung so klug geschrieben, dass sie nicht nur schwierig zu spielen sind, sondern gleichzeitig auch unglaublich virtuos und effektvoll klingen. Mit den Sonaten wollte der Komponist die Entwicklung der musikalischen und sich über die Jahrhunderte veränderten Spieltechniken abbilden – Charakteristiken der frühen Musik des 20. Jahrhunderts wie Ganztonskalen und Dissonanzen finden sich in ihnen genau wie progressive Bogen- und Fingertechniken. Der dramatische und energiegeladene Duktus der 3. Sonate ist dabei vor allem bestimmt durch Intervallsprünge, experimentelle Harmonien und Chromatik – für Hadelich bildet die „Ballade“ einen passenden klanglichen Anknüpfungspunkt an Langs „Mystery Sonatas“.
Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 2 d-Moll zählt wohl zu den tiefgründigsten Werken, die der Komponist geschrieben hat. Zugrunde liegt der Partita eine d-Moll-Kadenz, die im Verlauf rhythmisch und melodisch variiert wird. Dabei entsteht ein Grundduktus von Trauer und Trost, konzentriert und ruhig und gleichzeitig auf besondere Weise gelöst. Bach verbindet gleich mehrere nationale musikalische Traditionen miteinander und lässt sie in der abschließenden Chaconne ineinander aufgehen. Der Geiger Yehudi Menuhin sprach von diesem letzten Satz als „größte Komposition für Solovioline überhaupt“. Für Augustin Hadelich ist die d-Moll-Partita die „großartigste tragische Musik“ überhaupt – ein Werk, das die Zuhörer*innen jedoch entgegen aller Erwartungen „erheben“ wird.
Als Sohn deutscher Eltern in Italien geboren, studierte Augustin Hadelich an der New Yorker Juilliard School und gewann 2006 den Internationalen Violinwettbewerb in Indianapolis. 2009 erhielt er den prestigeträchtigen „Avery Fisher Career Grant“, 2011 eine Fellowship des Borletti-Buitoni Trust. 2015 gewann er den Warner Music Prize, 2016 folgte der Grammy Award. Das Fachmagazin „Musical America“ wählte ihn 2018 zum „Instrumentalist of the Year“. 2021 erhielt er einen Opus Classic für seine Aufnahme von Dvořáks Violinkonzert. Seit 2021 lehrt er an der Yale School of Music. Als Solist auf den Podien von Spitzenorchestern weltweit erfindet er das klassisch-romantische Violinrepertoire dank seines makellosen Spiels und seiner Gestaltungskraft immer wieder aufregend neu. Sein begeistert forschendes Interesse gilt dazu den Violinkonzerten des 20. und 21. Jahrhunderts. Augustin Hadelich spielt auf einer Violine von Giuseppe Guarneri del Gesù von 1744, bekannt als „Leduc, ex Szeryng“, einer Leihgabe des Tarisio Trust.
Nerven wie Drahtseile, eine Menge musikalisch-technisches Fachwissen und nicht nur jedes Detail, sondern auch das große Ganze immer im Blick – ohne Dirk Beyer, Gregor Beyer und Raphael Volkmer geht kein Konzerthausorchester-Auftritt über die Bühne. Schon gar nicht Mahlers 2. Sinfonie mit über 200 Mitwirkenden. In dieser „Einblicke“-Folge seid Ihr auf und hinter der Bühne mitten im Alltag unserer drei Orchesterwarte, die Euch erzählen, welche Herausforderungen und Freuden ihr Beruf mit sich bringt.