15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
Kurt Sanderling, Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters von 1960 bis 1977, war ein Weggefährte von Dmitri Schostakowitsch und jemand, dem der Komponist vertraute. Ehemalige Mitglieder unseres Vorgängerorchesters erinnern sich an seine Proben und die legendären Aufnahmen der Sinfonien 1976 bis 1982. Diese Tradition meint unser heutiger Chefdirigent Christoph Eschenbach, wenn er sagt, es habe „Schostakowitsch in der DNA“.
Die Kontrabassistin und spätere Kontrabass-Professorin Barbara Sanderling spielte zwischen 1961 und 1986 im Berliner Sinfonie-Orchester, dem Vorgänger des Konzerthausorchesters Berlin – einen Großteil der Zeit am Solopult. Seit 1963 mit Chefdirigent Kurt Sanderling verheiratet, hat sie dessen langjährigen Weggefährten Dmitri Schostakowitschs nicht nur in offiziellen Situationen, sondern auch privat erlebt.
„Mein Mann und Dmitri Schostakowitsch waren sich nah, wenn man davon sprechen kann, dass Schostakowitsch überhaupt jemandem nah stand. Er war nicht bereit, sich als Freund zu „outen“. Dazu war er viel zu introvertiert. Aber die beiden haben natürlich eine lange Zeit miteinander erlebt. Das ist dann geblieben, dieses Vertrauen. Mein Mann war durch die vielen Jahre in der Sowjetunion ebenso geschult, was man sagen kann und was nicht. Schostakowitsch ist auch hier in unser Haus in Pankow gekommen. Ich würde von einer auf gleicher Höhe und auf Respekt beruhenden Beziehung sprechen. Er hat meinen Mann und seine Arbeit ganz gut gemocht. Ich weiß noch, wie im Sommer 1975 die Todesnachricht kam. Da habe ich ganz deutlich gemerkt, wie nah das meinem Mann gegangen ist, was für ein Verlust das für ihn war.“
Auch ihre beiden gemeinsamen Söhne Stefan (*1964) und Michael (*1967) sind Dirigenten, insbesondere Michael gilt als Schostakowitsch-Spezialist. Der berühmte Gast im elterlichen Wohnzimmer war allerdings niemand, der auf Kinder zuging: „Dazu war er zu unsicher und nervös, verängstigt durch einen Staat, der nicht Halt davor gemacht hat, Menschen zu zerbrechen. Aber ich glaube, dass sich allein durch eine Begegnung wie der mit Schostakowitsch etwas übertragen kann, ohne dass man mit Kindern darüber spricht. Es war ja nicht daran zu denken war, dass sie eines Tages die Musik dieses Onkels, der da sitzt, selber aufführen würden. Die beiden hat auf jeden Fall geprägt, dass wir mit dem Berliner Sinfonie-Orchester die Schostakowitsch-Sinfonien auf Eterna-Schallplatte aufgenommen haben. Und dass sie immer dabei waren bei allen Konzerten. Da ist dann diese Nähe zur Musik von Schostakowitsch entstanden – besonders bei Michael, der alle 15 Sinfonien mit den Dresdner Philharmonikern eingespielt hat.“
Andrea Mai, ab 1975 Mitglied der Ersten Geigen, erinnert sich lebhaft an die Aufnahmen der fünften, zehnten und achten Sinfonie mit dem Berliner Sinfonie-Orchester: „Mein erster ‚Dienst‘ bestand aus Brahms’ zweiter und Schostakowitschs fünfter Sinfonie. Kurt Sanderling begann mit der Ansage: ‚Jetzt nehmen wir uns alle mal ein bisschen Zeit, und ich singe ihnen etwas vor.‘ Ich war sehr beeindruckt, wie er ein Stück auseinandergenommen hat – insbesondere die langsamen Sätze der fünften und auch der zehnten Sinfonie. Da waren diese schönen Melodien – aber sie sollten nicht schön gespielt werden. Er hat da eine Farblosigkeit, eine Trostlostigkeit herausgearbeitet. So leise, farblos, ängstlich und zittrig. Er konnte in einer Phrase genau darstellen, was Schostakowitsch meint. Und hat sich unglaublich viel Zeit gelassen. Wenn es sein musste, wurde eine Stelle 20 Mal gespielt.
Ich habe Schostakowitsch später auch mit anderen Dirigenten musiziert. Aber nicht in dieser Intensität, mit diesem Zugriff, den Kurt Sanderling hatte. Nach- und Mitfühlen, eine innere Anteilnahme und Empathie waren sein Markenzeichen. Es ging Kurt Sanderling um Aussage, nicht um Homogenität. Dazu gehörte diese Schroffheit. Er kannte alle diese Stücke aus erster Hand, denn er hatte deren Uraufführung als Zweiter Dirigent der Leningrader Philharmoniker miterlebt. Erklärungen von Schostakowitsch zu seiner Musik gab es ja nicht in dieser Zeit der Angst.
Bei den Schallplattenaufnahmen hat er auf jede Kleinigkeit geachtet. Der Tonmeister seines Vertrauens war Heinz Wegner. Dem sagte er regelmäßig: ‚Wir sind in Ihrer Hand, Herr Wegner. Abends sind wir dann in Gottes Hand.‘ Der Tonmeister, der eine angenehme Stimme hatte und sehr verbindlich war, nahm es manchmal sogar noch genauer als Kurt Sanderling. Der sagte irgendwann mit unnachahmlich schmollendem Gesichtsausdruck: ‚So, Herr Wegner, aber jetzt haben wir’s.‘ Und schließlich: ‚Gut jetzt.‘ Dann waren wir fertig.“
Unser ehemaliger Solo-Flötist Ernst-Burghard Hilse spielte 1977 in seinem ersten Programm gleich die 15. Sinfonie mit dem Chefdirigenten: „Der erste Satz beginnt mit zwei Triangel-Schlägen, dann folgt ein längeres Flötensolo. Kurt Sanderling hat zehn Minuten mit mir daran gearbeitet, bis es genau so klang, wie er es sich vorstellte. Das Werk war für ihn keinesfalls ‚Zirkusmusik‘, sondern voller Doppelbödigkeit. Die Umstände von Schostakowitschs Leben in der Stalin-Zeit kannte er selbst nur zu genau – diese Angst, zermahlen zu werden. Kurt Sanderling besaß die wunderbare Fähigkeit, in Bildern zu sprechen und damit seine Klangvorstellungen zu illustrieren. So sind die einzigartigen Sanderlingschen Farben entstanden, die man bis heute in den Aufnahmen hören kann. Ich hatte das Glück, die erste, die fünfte und eben die 15. Sinfonie mit ihm aufzunehmen.“
Auch Stefan Markowski, aktueller Konzertmeister der Zweiten Geigen und seit 1981 im Orchester, hat seine besondere Schostakowitsch-Erinnerung – aus einer Zeit, als Kurt Sanderling längst nicht mehr Chefdirigent war. Doch das Berliner Sinfonie-Orchester war und blieb ein Schostakowitsch-Orchester: „1988 dirigierte Kurt Sanderling die fünfte Sinfonie. Es war unglaublich fesselnd und emotional. Dazu kam aber noch etwas anderes: Es war eines der letzten Konzerte des damaligen BSO vor einer großen Weltreise nach England, in die USA und nach Japan. Im Saal saßen Vertreter der Agenturen, die das Orchester auf dieser Reise managen würden. Alle Musiker wussten, dass es auch deshalb ein sehr wichtiges Konzert war. Diese Mischung aus extremer Spannung, höchstem Einsatz und musikalisch großartiger, erfüllter Gestaltung durch den Dirigenten führte zu einem aufwühlenden, unvergesslichen Konzert, das auch jetzt noch, Jahrzehnte später, in meiner Erinnerung lebendig ist.“
Zuletzt soll Kurt Sanderling selbst zu Wort kommen. In einem Gespräch im Jahr vor seinem Tod 2011 beschreibt er eindringlich, wie er als junger Mann während des Stalin-Terrors Ende der 1930er Jahre die Musik des Komponisten verinnerlicht hat: „Ich war in der ersten Aufführung der fünften Sinfonie in Moskau […]. Es war tatsächlich so, dass wir uns nach dem ersten Satz schüchtern zu unseren Nachbarn umgeschaut und uns innerlich gefragt haben: Werden wir dafür jetzt verhaftet, dass wir das gehört haben? So war die Situation damals. Und eine ganze Generation mit und nach Schostakowitsch hat das noch nachvollziehen können. Das ist heute natürlich anders. Heute hört man die Bedrückung des ersten Satzes, und Bedrückung ist etwas, das unabhängig ist von der jeweiligen Zeit. Für mich hat die Musik also den Test der Zeit bestanden. Es ist nicht mehr nur die Beschreibung der Zeit, sondern es ist mehr.“
Fotos und Briefe: Aus dem Privatarchiv der Familie Sanderling. Titel: Kurt Sanderling und Dmitri Schostakowitsch. Orchesterfoto: Berliner Sinfonie-Orchester unter Kurt Sanderling, am Solo-Kontrabass Barbara Sanderling. Brief 1 (Berlin 1960): Fußballfan Schostakowitsch bedauert auf entsprechendem Briefpapier, den gerade zum Chefdirigenten des BSO gekürten Kurt Sanderling nicht getroffen zu haben und hofft diesbezüglich auf seine nächste Reise in die DDR. Brief 2 (Moskau 1949): Dank des Komponisten an den Dirigenten für die Interpretation der Fünften.
Zitat Kurt Sanderling: Aus Tobias Niederschlags Interview mit dem Dirigenten (2010). Erschienen in der Festschrift zur Sanderling-Hommage 2011.