11.00 Uhr
Familienführung
Pavel Kolesnikov Klavier
Samson Tsoy Klavier
Igor Strawinsky (1882 – 1971)
„Le sacre du printemps“ – Ballettmusik in der Fassung für Klavier zu vier Händen
I. „L’Adoration de la terre“ (Die Anbetung der Erde)
Introduction.
„Les augures printaniers“ (Die Vorboten des Frühlings) – „Danses des adolescentes“ (Tänze der jungen Mädchen).
„Jeu du rapt“ (Spiel der Entführung)
„Rondes printanières“ (Frühlingsreigen)
„Jeux des cités rivales“ (Spiele rivalisierender Stämme)
„Cortège des sages“ (Aufzug der Weisen)
„Le sage“ (Der Weise)
„Danse de la terre“ (Tanz der Erde)
II. „Le sacrifice“ (Das Opfer)
Introduction
„Cercles mystérieux des adolescentes“ (Geheimnisvoller Reigen der Mädchen)
„Glorification de l’élue“ (Verherrlichung der Auserwählten)
„Evocation des ancêtres“ (Anrufung der Ahnen)
„Action rituelle des ancêtres“ (Weihevolle Ahnenfeier)
„Danse sacrale“ (Opfertanz der Auserwählten)
Pause
Leonid Desyatnikov (*1955)
„Trompe-l’œil“ für Klavier zu vier Händen
Deutsche Erstaufführung
Franz Schubert (1797 – 1828)
Fantasie für Klavier zu vier Händen f-Moll op. 103 D 940
Allegro molto moderato – Largo – Allegro vivace – Con delicatezza
Künstlerische Täuschungsmanöver, Spielereien mit den Erwartungen, absichtliches Hinters-Licht-Führen – all dies könnte für die Werke unseres Klavierabends gelten.
Fake ist natürlich gar nichts an Franz Schuberts f-Moll-Fantasie. Tief empfundene Wehmut dagegen hört man in fast jeder Note. Und das soll vielleicht über die Trauer hinwegtäuschen, mit der Schubert zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben täglich zu kämpfen hatte. Trauer auch über seine Liebessituation, darüber, dass er zeit seines Lebens zwar vielleicht einige Liebeleien, nie aber eine Seelenverwandte gefunden hatte. Also gefunden hatte er sie schon, aber Caroline von Esterházy sah das nicht wie er. Für sie war er der Hilfslehrer, zu alt, nicht ihres Standes. Die beiden spielten häufig vierhändig Klavier in diesem Sommer 1824, in dem Schubert einige Jahre nach dem Kennenlernen in Wien ein zweite Mal Zeit auf dem Landschloss der Familie in Zselíz verbrachte. Da war Caroline 19 Jahre alt, Franz Schubert 27. Dass von seiner Seite aus mehr gewünscht war, muss Caroline aber bewusst gewesen sein. Im Scherz warf sie ihm einmal vor, dass er ihr ja noch keines seiner Werke dediziert hätte, worauf er antwortete: „Wozu denn, es ist Ihnen ja ohnehin alles gewidmet.“
So also auch die Fantasie f-Moll für Klavier 4-händig, die er aber vermutlich mit Caroline selbst nie gespielt hat. Zum ersten Mal erklang sie ein halbes Jahr vor Schuberts Tod, als er das Werk zusammen mit seinem Freund Franz Lachner einem weiteren Freund als einzigem Zuhörer vorspielte. Vorbild war eine Komposition aus dem Jahr 1822, die berühmte „Wandererfantasie“.
Auch dieses Mal legte Schubert ein einsätziges Werk vor, das aber eigentlich in vier Teile untergliedert ist und dabei durch zentrale Motive zusammengehalten wird. Das immer wiederkehrende Mottothema schleicht mit Punktierungen voran, ohne vom Fleck zu kommen. Einen Schritt voran, drei zurück. Darunter spielt der Pianist im tiefen Register eine Akkordbrechung, die immer zwischen den Grundtönen f und c hin- und herpendelt: Franz und Caroline.
Wie ein Echo klingen Franz und Caroline in Leonid Desyatnikovs Werk weiter. „Trompe-l’œil“ hat der 1955 in Kharkiv geborene Komponist es genannt. Und wörtlich übersetzt bedeutet das eigentlich „Täuschung des Auges“. Natürlich handelt es sich hier vielmehr um eine Ohrentäuschung, die die beiden Pianisten da präsentieren.
Pavel Kolesnikov und Samson Tsoy haben das Stück im vergangenen Jahr beim Aldeburgh Festival zur Uraufführung gebracht. Damals noch als Vorspiel, heute – viel passender – als Nachwort. Schuberts Fantasie scheint zerbrochen und entblößt. Was Desyatnikov übrig lässt, wirkt wie eine verlassenere Maschinerie, deren metallisches Klirren die Ursprungsmusik überlagert. Ist das der böse Bruder von D 940? Oder eher die chaotische Hinterwelt?
„Ich habe das Bedürfnis, die Musik anderer zu enteignen, mir die Musik eines anderen Komponisten zu eigen zu machen“, gibt Leonid Desyatnikov zu. Ja, das hört man. Franz Schubert als Exzentriker, der Grenzen ganz bewusst fast bis zum Chaos ausreizt. Denn das tut Desyatnikov selbst regelmäßig. Berühmtheit erlangte der Komponist, der zwar in der Ukraine geboren wurde, sein Berufsleben aber in Russland verbrachte und verbringt, mit seinem musikalischen Beitrag zum Opernprojekt „Rosenthals Kinder“ des Autors Vladimir Sorokin. Die skurrile Geschichte über fünf geklonte Komponisten (Mozart, Verdi, Wagner, Mussorgski und Tschaikowsky), die in der Sowjetunion aufwachsen und im modernen Russland auf der Straße landen, sorgte für große Aufregung – vor allem aber wegen der Geschichte, nicht wegen der Musik. Die bekam Lob, welches Desyatnikov mit Freude aufnahm: „Vielleicht habe ich die letzte russische Oper geschrieben. Auf jeden Fall ist sie eine Hommage an das musikalische Erbe des 19. Jahrhunderts und ein Nachdenken über die klassische Oper…“
Ein anderes Skandalstück mit Wurzeln in der russischen Musikgeschichte komponierte knapp 90 Jahre zuvor Igor Strawinsky. Und auch löste nicht unbedingt die Musik die berühmt gewordenen Tumulte bei der Uraufführung von „Le sacre du printemps“ in Paris 1913 aus; dies taten vor allem die Tänzerinnen und Tänzer der „Ballets Russes“ in der Choreographie von Vaslav Nijinsky mit ihren primitiv, vielleicht sogar obszön anmutenden Gesten und Bewegungen. Da war nichts Elegantes, kein schön anzusehender Spitzentanz, sondern archaisches, brutales Stampfen in zotteligen, weiten Gewändern.
Die Idee dazu stammte tatsächlich von Strawinsky selbst: „völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt“, hätte ihn „die Vision einer großen heidnischen Feier“ überkommen. „Alte angesehene Männer (‚die Weisen‘) sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das wurde zum Thema von ‚Le sacre du printemps‘.“
Noch vor der Uraufführung veröffentlichte Igor Strawinsky eine Fassung für Klavier zu vier Händen. Ein Täuschungsmeisterwerk! Alle Klangfarben des riesig besetzten Orchesters übertrug der Komponist auf ein Klavier. Er selbst spielte es gemeinsam mit seinem Kollegen und Mentor Claude Debussy – einer jener nicht dokumentierten Momente der Musikgeschichte, die man zu gerne miterlebt hätte!
Pavel Kolesnikov wurde 1989 im sibirischen Nowosibirsk geboren und lebt in London. Im letzten Sommer war er Residenzkünstler beim Aldeburgh Festival und trat bereits zum sechsten Mal bei den BBC Proms auf. In dieser Saison führen ihn Konzerte unter anderem zum Danish National Symphony, zum Cincinnati Symphony, zum Netherlands Philharmonic und zum Royal Philharmonic Orchestra, zum Klavierfestival Ruhr, in die Wigmore Hall und auf eine Nordamerika-Tournee. Er ist bekannt für seine genreübergreifenden Programme, so etwa „Celestial Navigation“ mit Projektionen der Architektin Sophie Hicks und Texten von Martin Crimp oder Bachs Goldberg-Variationen mit der Tänzerin Anne Teresa de Keersmaeker.
Pavel Kolesnikov gewann 2012 den Honens International Piano Competition und war von 2014 bis 2016 BBC New Generation Artist. Seine Diskografie für Hyperion umfasst Alben mit Musik von Reynaldo Hahn, Louis Couperin und Chopin.
Samson Tsoy wurde 1988 in Kasachstan geboren und lebt ebenfalls seit Längerem in London.In dieser Saison gibt er sein Debüt beim London Philharmonic Orchestra und kehrt unter anderem mit Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 1 in die in die Wigmore Hall zurück. Seine Konzerttätigkeit führt ihn rund um den Globus zu renommierten Festivals und Veranstaltungsorten, so etwa an das Barbican, in die Royal Festival Hall und in der Queen Elizabeth Hall, zum Aldeburgh Festival, ins Théâtre de la Ville und in die Salle Gaveau in Paris oder zum Verbier Festival. 2023 trat er als erster klassischer Musiker zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz vor den wichtigsten politischen Entscheidungsträgern der Welt auf.
Samson Tsoys Debütalbum mit Solowerken von Brahms wird nächstes Jahr bei Linn Records erscheinen.