11.00 Uhr
Familienführung
Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)
Sonate für Klavier E-Dur op. 109
Vivace, ma non troppo
Adagio espressivo – Prestissimo
Gesang, mit innigster Empfindung: Andante, molto cantabile ed espressivo
Sonate für Klavier As-Dur op. 110
Moderato cantabile, molto espressivo
Allegro molto
Adagio, ma non troppo – Fuga. Allegro, ma non troppo
Sonate für Klavier c-Moll op. 111
Maestoso – Allegro con brio ed appassionato
Arietta. Adagio molto semplice e cantabile
Veranstaltung ohne Pause
„Schwanengesänge“ waren die letzten drei Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven ganz gewiss nicht. Er komponierte die Werke mit den Opuszahlen 109, 110, 111 in den Jahren 1820 bis 1822, während er parallel an seiner Missa solemnis feilte, die dem Erzherzog Rudolph von Österreich zugedacht war. Ursprünglich wollte Beethoven die c-moll-Sonate Antonie Brentano widmen, einer der Kandidatinnen für den Titel „Unsterbliche Geliebte“ (bis heute ist nicht zweifelsfrei erwiesen, wen der Verfasser des gleichnamigen Briefes aus dem Jahr 1812 damit meinte) und Mutter jener Maximiliane Brentano, der Beethoven seine Sonate op. 109 zugeeignet hatte. Weil sich die Arbeit an der Messkomposition verzögerte, tröstete Beethoven den Erzherzog mit der Dedikation zu op. 111. Diese Sonate bildet den Gipfelpunkt der Gattung, ist zugleich opus summum und in gewisser Weise auch ultima ratio. Doch schon die beiden Vorgängerwerke – die Sonate E-Dur op. 109 und die Sonate As-Dur op. 110 – atmen den Geist des Beethovenschen Spätstils, der sich durch eine rücksichtslos-radikale Größe und die Überwindung tradierter Formmuster auszeichnet. Zu eigen ist jeder dieser drei Sonaten aber vor allem eine unerhört schöne, ja, beinahe metaphysisch-spirituelle Kantabilität. Gesänge auf den Flügeln des Geistes, das sind diese Werke ganz gewiss.
Kein Zweifel kann daran bestehen: Dieses Bildnis ist bezaubernd schön. Ein Triptychon, es zeigt drei Schwestern, eine anmutiger, faszinierender, verrückter als die andere, im Grunde wie bei Tschechow, in dessen gleichnamigem Schauspiel. Und doch sind sie ihrem Wesen nach so unterschiedlich, wie man es sich selbst im Traum kaum ausmalen könnte: hier die widerspenstige, mal wild entschlossene, mal melancholisch verschattete, von schier überirdischen Melodien erfüllte; dort die milde, sanfte, zurückgenommene, in deren Innern es aber beständig brodelt, bis schließlich die Emotionen wie ein Lavastrom aus ihr herausfließen; und zwischen ihnen die philosophisch angehauchte, metaphysisch glühende, ein bisschen der Welt abhandengekommene Schwester, deren Gesang aber von so unglaublicher Schönheit ist, dass man Rilke widersprechen möchte, wenn er schreibt, das Schöne sei nichts als des Schrecklichen Anfang – an dieser elegischen Duineser Stelle irrt der Dichter: Schönheit wird die Welt retten.
Mit seinen letzten drei Klaviersonaten betritt Ludwig van Beethoven, längst ertaubt, noch einmal bis dato unerkundetes, ungehört-unerhörtes Terrain. Wobei diese kreative Reise schon mit der A-Dur-Sonate op. 101 begonnen und in der legendären „Hammerklaviersonate“ op. 106 zu einem Gipfel an polyphoner Vertracktheit geführt hatte, den Beethoven selbst in der Sonate op. 110 nicht mehr in derselben Unerbittlichkeit ansteuert: Der Finalsatz der B-Dur-Sonate übersteigt in Sachen Kontrapunkt so ziemlich alles, was er zuvor unternommen hatte – was für jeden Pianisten, jede Pianistin gleichbedeutend mit der Ersteigung des Mount Everest ist; so heikel, unrettbar sind die Stimmen ineinander verkeilt.
Opus 109
In der E-Dur-Sonate op. 109 kehrt Beethoven zurück aus einsamer Höhe und besinnt sich auf alte Tugenden, sprich: Er atmet durch und fängt erst einmal wieder an zu singen, ohne diesen Gesang gleich von herben Brüchen oder kontrapunktischen Manövern in Frage stellen zu lassen. Kaum ein Werk unter den 32 Sonaten verzeichnet die Spielanweisungen „espressivo“ und „dolce“ so häufig wie dieses. Und so ist auch – nicht durchgängig, aber doch meist, vor allem im Finale, einem Andante molto cantabile ed espressivo mit der nachgerade Schumannschen Überschrift „Gesang, mit innigster Empfindung“ – der Geist der Sonate, ihr Wesen: lichtvoll-lyrisch, serenadenhaft-sehnsuchtsvoll, Sinnbild eines sublim waltenden melodischen Glücks.
Allein, dieses Glück strömt nicht einfach so dahin. Es ist, dazu genügt ein Blick in den Kopfsatz, gebrochen. Was nicht bedeutet, dass Beethoven seine Existenz anzweifeln würde, aber zur Folge hat, dass der Komponist schon nach acht Takten dieses Vivace, ma non troppo innehält und, wie von Geisterhand herbeigeweht, ein Adagio espressivo seine zarten Schwingen ausbreitet, als Einschub, als Parenthese, als Intermedium – frappantes Zeichen für den Spätstil dieses Komponisten, der immer mehr ins Rhapsodische strebt, ins Aphoristisch-Fabulierende; das formale Korsett der sogenannten Klassik wird Stück für Stück abgestreift, um der Fantasie freien Lauf zu lassen. Die Romantik ist nicht mehr fern.
Doch ganz mag Beethoven das vertraute Gewand in dieser Sonate noch nicht abstreifen. Das Vivace-Thema wird nach dem Zwischenspiel wieder aufgegriffen. Daran schließen sich eine knappe Durchführung sowie eine zunächst handelsübliche Reprise an, die dann urplötzlich ein zweites Mal ins Adagio kippt, nur noch kühner als in der Exposition, mit einem Fortissimo-Arpeggio als Kulminationspunkt im harmonisch weit entfernten C-Dur. Die konzise Coda verknüpft beide Welten wieder miteinander, doch bereits in den letzten Takten kündigt sich ein späterhin veritables Stürmen und Drängen an. Und „siehe“ da, seinesgleichen geschieht: Wie eine nervöse Windsbraut saust das Prestissimo vorüber, im brüsken 6/8-Takt einer Tarantella und herb-kantigen e-Moll, resolut, rasant und rustikal.
Das war nur der Prolog. Nun, da der Orkan vorüber ist, vernehmen wir einen Gesang von beinahe ätherischem Empfindungsreichtum, der allein deswegen singulär ist, weil er zugleich der erste langsame Finalsatz in Beethovens Sonaten-Kosmos ist – eine Variationenreihe, deren regelmäßig gebautes Thema zumal in seiner rhythmischen Faktur an eine barocke Sarabande erinnert, und die sich über mehre andere stilisierte Tänze und komplexe kontrapunktische Strukturen hinweghebt, bis sie schließlich in Richtung Himmel trillert wie eine Vision. Die aber wieder auf dem Boden landet, wenn Beethoven ganz am Schluss das schlicht-kantable Thema noch einmal behutsam aufnimmt.
Opus 110
George Bernard Shaw bewunderte die E-Dur-Sonate. Seine liebste aber war sie nicht. Diese Auszeichnung verlieh der äußerst musikkundige irische Dramatiker der Sonate in As-Dur op. 110. Und auch Igor Strawinsky war voll des Lobes. Allerdings rühmte er nicht die Schönheit des Werks, sondern dezidiert den Schlusssatz: „Die Fuge ist der Gipfel der Sonate. Ihr großes Wunder liegt in der Substanz der Kontrapunktik und entwindet sich jeder Beschreibung.“
Zunächst richtet sich Beethovens Blick zurück und wird zugleich die enge thematische Verbundenheit dieser Sonate mit der vorangegangenen evident: Das Hauptthema des ersten Satzes knüpft unmittelbar an das Variationen-Thema aus dem Finale von op. 109 an, nur eben enharmonisch verwechselt: Aus dem gis wird ein as, aus E-Dur wird As-Dur (was einer ausgedehnten Wanderung quer durch den Quintenzirkel entspricht). Auch in ihrem Gestus unterscheidet sich die Sonate op. 110 ein wenig von ihrer älteren Schwester. Wie diese singt sie gerne (und dabei äußerst anmutig), doch bis zum Finale vermeidet sie den Konflikt und klingt vielmehr weitgehend wie ein Plädoyer für Sanftmut und Weisheit, mit einer Ausnahme: Das Allegro molto in der Mitte mutet nicht nur wegen der Tonart f-Moll ein bisschen wie ein burschikoser, beinahe ruppiger Gassenhauer an). Was wiederum nicht bedeutet, dass diese Sonate Abgründen ausweichen würde: Die as-Moll-Verschattung im Arioso dolente-Abschnitt öffnet für kurze Zeit eine Tür zur Unterwelt.
Zum Glück für uns alle schließt sie sich wieder und ermöglicht stattdessen den Blick in eine lyrisch grundierte Klangwelt. Dort erscheint zunächst ein barockes Zitat (das Gambensolo in der Alt-Arie „es ist vollbracht“ aus Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“) und wartet danach eine fundamentale Fuge auf uns, die im Bach-Stil anhebt, dann aber durch die Klassik hindurch in Richtung Romantik steuert. Ein Stück, das nicht nur die unangefochtene Meisterschaft seines Schöpfers im Umgang mit polyphonen Strukturen dokumentiert, sondern zugleich einen tröstlichen Wohlklang verströmt und in Teilen sogar das Gepräge des Spirituellen trägt.
Opus 111
Gleiches ließe sich von Beethovens letztem Gattungsbeitrag sagen. Doch liegen die Dinge hier bei näherer Betrachtung etwas anders. Nicht zu Unrecht nämlich hat man das c-Moll-Werk auch mit dem Titel „Sonate testament“ belegt, und dies, obwohl Beethoven noch fünf weitere Jahre auf Erden weilte. Doch op. 111 war sein letztes Wort in Sachen Sonate – und die Bagatellen op. 119 sowie die kurz darauf entstandenen „Diabelli-Variationen“ nurmehr aphoristischer Nachklang dieses Statements. Insofern stimmt die Zuschreibung. Schon formal setzt sich das Werk ab. Es ist zweisätzig, was weiland sowohl bei Beethovens Verleger Adolph Martin Schlesinger als auch bei seinem Adlatus Schindler für nicht eben geringes Erstaunen sorgte. Doch wählte der Komponist diese Form nicht aus einer Laune heraus. Er strebte nach einer dialektischen Lösung, nach einem Widerspruch, den erst die letzten Takte der Sonate aufzulösen wussten, nach der Dichotomie aus (letztlich dominierendem) Dur und Moll, aus Licht und Dunkel, aus Himmel und Hölle, vielleicht sogar aus Leben und Tod.
Edwin Fischer, einer der ruhmreichsten Beethoven-Interpreten, meinte, die beiden Sätze stellten „das Diesseits und das Jenseits“ dar, während Alfred Brendel das Gespann als ein „abschließendes Bekenntnis“ verstand, als ein „Präludium des Verstummens“. Am Beginn dieses „Vorspiels“ mit der Spielanweisung „Maestoso“ steht das Suchen nach einem harmonischen Zuhause, und es dauert eine geraume Weile, bis die Tonika c-moll endlich erreicht ist. Doch selbst dort fühlt sich die Musik anscheinend nicht wohl. Hurtig eilt sie hinfort, in punktierten Rhythmen, und landet schließlich auf einem mysteriösen Pianissimo-Feld, das wiederum ohne große Ankündigung und einigermaßen schroff von einem Allegro con brio ed appassionato okkupiert wird. Dort nun tobt sich die Musik nach Kräften mächtig aus, bis sie sich schließlich, über einen kernigen Triller hinweg, gen C-Dur wendet.
In dieser Tonart beginnt auch die Arietta, mit einem betont schlichten Thema, formal gebändigt: Zweimal acht Takte mit Wiederholungen umfasst das liedhafte, auf- und absteigende Thema. Dieses bildet den Kern und ist zugleich Ausgangspunkt für eine Reihe von Variationen, die vielfarbiger, widersprüchlicher und traumhafter kaum sein könnten und schließlich zur völligen Auflösung der musikalischen Textur streben, mit Triolen und Tremoli, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen.
Elisabeth Leonskaja wurde 1945 im georgischen Tiflis als Tochter russischer, aus Odessa stammender Eltern geboren. Mit sieben erhielt sie regelmäßigen Klavierunterricht, gab mit elf ihr öffentliches Debüt und wurde mit vierzehn am Musik-Gymnasium ihrer Heimatstadt aufgenommen. Nach dem Gewinn des Internationalen Enescu-Klavierwettbewerbs in Bukarest 1964 wechselte sie an das Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium in die Klasse von Jacob Milstein. Bald darauf nahm sie erfolgreich am Marguerite-Long-Wettbewerb in Paris und am Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel teil. Über ihren späteren Ehemann, den Geiger Oleg Kagan, kam Elisabeth Leonskaja in Kontakt mit Swjatoslaw Richter, der ihre weitere musikalische Entwicklung maßgeblich beeinflusste und ihr bis zu seinem Tod in Freundschaft verbunden blieb.
1978 reiste Elisabeth Leonskaja aus der Sowjetunion aus und ließ sich in Wien nieder. Ihr sensationeller Auftritt bei den Salzburger Festspielen 1979 markierte den Beginn einer großen Karriere im Westen. Neben der solistischen Tätigkeit ist Kammermusik immer ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit geblieben – so zählten bisher unter anderem das Belcea, Borodin, Artemis oder Jerusalem Quartett und vor allem das Alban Berg Quartett zu ihren Partnern.
Elisabeth Leonskaja hat zahlreiche Schallplattenpreise erhalten. Ihre umfangreiche Diskographie nennt die Klavierkonzerte von Tschaikowsky, Chopin, Schostakowitsch und Brahms, alle Klaviersonaten von Schubert, Brahms und Mozart sowie die letzten drei Sonaten von Beethoven. Sie wurde mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, der georgischen Auszeichnung „Priesterin der Kunst“ und dem Lifetime Achievement Award 2020 geehrt.
Seit 1999 ist Elisabeth Leonskaja regelmäßig mit dem Konzerthauorchester (ehemals Berliner Sinfonie-Orchester) aufgetreten und war zudem mit Soloabenden im Konzerthaus zu Gast.